Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
dann betrat er den kaputten, überwucherten Gartenpfad. Auf der Veranda blieb er kurz stehen, um den rostigen Briefkasten und die flackernde Glühbirne zu betrachten, bevor er eintrat.
Wenn er durch einen Türrahmen ging, zog er automatisch den Kopf ein, obwohl er eigentlich gar nicht so groß war, knapp über eins achtzig. Er hatte sich jedoch schon so oft gestoßen, wo andere mühelos auswichen, dass er aus Gewohnheit die Schultern einzog und den Kopf senkte.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Immer noch konnte er ihre Stimme hören, wie sie begeistert sang, aber nie die richtige Tonlage erwischte, ihren um Strenge bemühten Tonfall, ihr honigsüßes Lachen. Noch lange nach ihrem Verschwinden hatte er sie im Haus gehört, wenn er aus der Schule kam.
Bist du es, mein Schatz? Hast du Hunger?
Der Klang ihrer Geisterstimme versetzte ihm einen Stich. Nach ihrem Verschwinden spukte sie weiter im Haus herum, als Echo, als Erinnerung, als in Rigipswänden und Dielenbrettern gespeicherte Energie. Es war schlimm und Grund genug, dass er wegging und den Vater dem Alter und der Einsamkeit überließ. Er wurde krank und verrottete wie der Rest des ganzen Plunders, den er auf dieser Müllkippe, die einmal ein Zuhause gewesen war, gehortet hatte.
An den Flurwänden stapelten sich die Zeitungen bis an die Decke, so dass in der Mitte nur ein schmaler Durchgang war. Michael war gezwungen, sich zu drehen und den Flur seitlich zu durchqueren, weil er auf seinem Weg in das einzig bewohnbare Zimmer des Hauses das Altpapier nicht berühren wollte.
Das Wohnzimmer mit dem Fernseher, den Bücherregalen, dem Sofatisch, den seine Mutter von der Großmutter geerbt hatte, und den selbstgemalten, gerahmten Landschaften an der Wand sah noch genau so aus wie früher. Hier waren alle Oberflächen, alle Stoffe sauber. Das Sofa und der Zweisitzer waren fleckenfrei, der altrosa Teppich leuchtete frisch. Selbst die Bücher waren abgestaubt. Die Frau vom Pflegedienst hatte Michael erzählt, dass sein Vater das Bettsofa abends aufgeklappt und morgens wieder zusammengeschoben hatte, bis er am Ende zu schwach dafür wurde. Das Hochzeitsfoto (waren sie selbst damals schon so starr und unglücklich gewesen?) stand auf dem Sekretär, neben einer blau-weißen Schreibtischlampe aus Porzellan mit aufgemalten Streublümchen, die Michaels Mutter so gemocht hatte. Nachdem er seinen Vater im Krankenhaus besucht und anschließend diese Oase im Chaos, das Auge des Sturms, entdeckt hatte, war er schockiert gewesen. Michael hätte gedacht, der Alte hätte sie vergessen oder es wenigstens versucht, aber stattdessen hatte er sich um ihr Zimmer gekümmert und alles so erhalten wie am Tag ihres Verschwindens.
Michael setzte sich auf das Chintzsofa und versuchte, den Krankheitsgeruch seines Vaters auszublenden. Doch der ließ sich nicht vertreiben, setzte sich gegen alle konkurrierenden Gerüche durch – es roch nach Medikamenten und feuchten Waschlappen, nach Desinfektionsmitteln und Fäulnis. Oder vielleicht bildete er sich das nur ein?
Plötzlich musste er an Bethany Graves denken. Sie hatte eine ruhige Kraft ausgestrahlt, die er von sich selber kannte. Sie war aufmerksam, sie hörte zu und wartete einen Moment ab, bevor sie sprach, wie um alles zu verarbeiten, was er gesagt hatte, vielleicht sogar auch das, was er verschwieg.
»Was soll das heißen?«, hatte sie gefragt, nachdem er gesagt hatte, er grabe Leichen aus. Er hatte Neugierde in ihren Augen gesehen und eine gesunde Portion Misstrauen.
»Das ist mein Beruf«, erklärte er, »ich grabe die Vergangenheit aus. Ich bin Höhlenforscher. Ursprünglich war The Hollows eine Bergbaugemeinde. Die Tunnel verlaufen überall, manche wurden zu reinen Forschungszwecken angelegt.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, dass man die Tunnel früher gegraben und dann aus irgendeinem Grund aufgegeben hat. Wenn man auf so einen stößt, ist es, als hätte man ein Grab entdeckt. Man reist in der Zeit zurück.«
»Ich habe davon gehört«, sagte sie, »von den Minen hier in der Gegend. Eisenerz, richtig?«
Sie machte einen interessierten Eindruck, aber Michael konnte derlei Situationen schlecht einschätzen.
»Magnetit und Hämatit«, erklärte er. »Die Stadt hat eine sehr interessante Geschichte. Die Ader, nach der ich suche, ist legendär. Zwei Brüder waren auf der Jagd nach dem großen Glück. Der eine kam um, der andere verschwand für immer.«
Michael hatte die Wahrheit gesagt. Er interessierte sich tatsächlich
Weitere Kostenlose Bücher