Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
es um Papierstapel auf dem Schreibtisch, einen Schrank mit Altkleidern oder eine unaufgeräumte Garage. Gerümpel war etwas, das man fröhlich beseitigte, was jedoch nicht einmal ansatzweise auf sein Elternhaus zutraf. Das Haus war eine Trutzburg des Drecks. Auf den Fluren türmten sich die Kisten, im Bad stapelte sich das Altpapier. Michaels Kinderzimmer war vollgestopft mit Computerzubehör und alten Telefonen, ein rätselhafter Friedhof für Elektroschrott. In einem Schrank hatten sie ein Katzenklo gefunden. Die Katze war vor langer Zeit gestorben, aber der Gestank nach Urin und Kot hatte überdauert. Beim Öffnen der Schranktür war ihnen ein Geruch entgegengeschlagen, der fast schon an Körperverletzung grenzte.
In allen Zimmern standen überladene Bücherregale. Zog man ein Exemplar heraus, stieg eine Staubwolke auf wie in einem Zeichentrickfilm. Das finstere Herz des Hauses bildete jedoch die Küche. Hier war der Verwesungsgeruch so erdrückend und das Summen der Fliegen so entnervend, dass sie sich nicht über die Schwelle gewagt hatten. Und sie hatten erst das Erdgeschoss gesehen.
Michael bemerkte, dass sich auf dem Nachbargrundstück etwas bewegte. Er entdeckte Mrs. Miller, die mit verschränkten Armen auf der Veranda stand. Es war dunkel, aber er spürte, dass sie in seine Richtung schaute. Vermutlich fragte sie sich, warum er nicht aus dem Auto stieg. Außerdem wunderte sie sich bestimmt über das Schild, das die Maklerin heute im Vorgarten aufgestellt hatte. Er hatte gedacht, der Anblick würde ihn erfreuen und erleichtern. Stattdessen machte sich eine vertraute Leere in seinem Herzen breit, ein Vakuum, das sich zum ersten Mal nach dem Verschwinden seiner Mutter aufgetan hatte. Es breitete sich in seinem gesamten Brustkorb aus wie verschütteter Rotwein auf einer weißen Tischdecke.
»Wo ist Mom?« Es schien hundert Jahre her zu sein, dass er die Frage, die ihn durch sein Leben begleiten und immer wieder aufkommen sollte, zum ersten Mal gestellt hatte.
Sein Vater Mack hatte in der Küche gestanden und in der zerkratzten, beschichteten Pfanne Rühreier gebraten. Er schien zu erstarren und die Luft anzuhalten, als Michael hereinkam und sich an seinen gewohnten Platz am Küchentisch setzte. Michael konnte sich glasklar an jedes Detail der morgendlichen Szene erinnern. An das Sonnenlicht, das durch das Fenster über der Spüle fiel. Die alte Reifenschaukel draußen, auf der Michael seit Jahren nicht gesessen hatte. An die wellige Stelle im Linoleum, an der sich immer das Stuhlbein verfing, und an das Brandloch in der rotweiß karierten Tischdecke. Er roch die zu lange gebratenen Eier. Seine Mutter hätte diesen Kaffee nicht gemocht; er war zu schwach. Bestimmt hätten seine Eltern deswegen gestritten. Dann koch dir deinen Kaffee doch selbst, wenn dir meiner nicht schmeckt.
» Wie meinst du das, › Wo ist Mom ?‹«
Sein Vater klang seltsam, gezwungen und fremd, und seine Schultern schienen zu zittern. Er hatte sich nicht vom Herd umgedreht, sodass Michael nur seinen Hinterkopf sehen konnte, das dunkelbraune, von grauen Strähnen durchzogene Haar. Sein Vater trug wie immer ein kariertes Hemd, dazu Chinos und braune Lederschuhe. Was wirst du heute anziehen, Mack? Das ständige Nachhaken seiner Mutter war eigentlich keine Frage, sondern Spöttelei.
An jenem Morgen hatte Michael mörderische Kopfschmerzen gehabt. Er versuchte, sich an den Vorabend zu erinnern, schaffte es aber nicht. Eigentlich hatte er bei einem Freund übernachten sollen, aber er hatte es dort nicht ausgehalten und war nach Hause zurückgekehrt. Er konnte sich daran erinnern, dass er mit dem Fahrrad abends durch die stillen Straßen geradelt war. Und daran, dass er das Fahrrad auf den Rasen geworfen hatte und die Verandatreppe hochgestiegen war. Er hatte die Hand an den Türknauf gelegt – und dann riss der Film. So lebhaft die Erinnerung an den Morgen danach auch war, der Vorabend blieb auch Jahre später verschwommen.
»Wo ist sie denn?«, fragte er noch einmal.
»Sie ist weg, mein Junge. Das weißt du doch.«
In dem Moment drehte sein Vater sich um, und Michael hatte den Eindruck, dass er um ein Jahrzehnt gealtert war.
»Weg? Wohin?«
Ich hasse dich. Ich hasse dieses Haus. Ich hasse mein Leben. Plötzlich hatte er ihre Worte im Ohr, ihre verzweifelten Schreie, die von den Wänden und der Zimmerdecke zurückgeworfen wurden. In dem Moment hatte er zum ersten Mal diese verzweifelte Leere gespürt.
Ein energisches Klopfen gegen
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