Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
die Seitenscheibe seines Trucks katapultierte ihn in die Gegenwart zurück. Mrs. Miller. Er kurbelte das Fenster herunter, obwohl er keine Lust dazu hatte.
»Michael«, sagte sie, »wieso sitzen Sie hier draußen herum?«
»Verzeihung«, antwortete er, »ich bin wohl eingedöst. Langer Tag.«
»Sie haben mir gar nicht erzählt, dass Sie verkaufen wollen.« Ihr Atem roch schal. Im Dunkeln konnte man sie kaum erkennen, aber er wusste, dass sie sich die Haare in einem grotesken Orange gefärbt hatte und ihr Gesicht eine zersprungene Maske voller tiefer Furchen war.
Er hatte Mrs. Miller schon immer gehasst. Sie verkörperte die alte Hexe von nebenan, die Bälle, die man versehentlich in ihren Garten schoss, nicht mehr herausrückte, mit finsterem Blick alles beobachtete und ermahnend den Zeigefinger erhob und sofort die Eltern anrief. Würde sie jemals sterben? Oder würde sie für alle Zeiten in ihrem Haus herumgeistern und Generationen von Nachbarskindern quälen?
»Ja, Mrs. Miller«, sagte er. Er bemühte sich, stets höflich zu bleiben. »Es wird zum Verkauf angeboten.«
Sie schnaufte missbilligend.
»Tja, wenn Sie es nicht entrümpeln, wird es nichts als Gesindel anziehen.«
Gesindel? Benutzte man dieses Wort überhaupt noch? Was bedeutete es eigentlich? Er stellte sich eine barfüßige, unterdrückte Familie in Lumpen vor, die ihre Habseligkeiten in Mülltüten mit sich herumschleppte.
»Ich bin dabei, Mrs. Miller.«
Mrs. Miller schaute zum Haus hinüber, und er folgte ihrem Blick.
»Bevor er krank wurde, hat er es gut in Schuss gehalten«, sagte sie. Es klang fast wie ein Vorwurf. Aber Michael kannte solche Menschen wie Claudia Miller und ignorierte die Unterstellung. Sie wusste nichts über ihn. Und über seinen Vater schon gar nichts. Niemand wusste etwas.
Er stieß die Fahrertür auf, woraufhin sie zurückwich und die Augen aufriss – vermutlich, weil er so groß war. Er baute sich vor ihr auf. Sie schlang sich die Arme um den Leib. Er konnte sehen, wie der abgewetzte Morgenmantel an ihrer schmalen, welken Gestalt herunterhing, und wandte den Blick ab. Etwas stieß ihn ab, und das war nicht nur ihre äußere Erscheinung. Er fühlte eine Beklemmung in sich aufsteigen, die ihn bei zwischenmenschlichen Begegnungen oft überkam, und am liebsten hätte er die Flucht ergriffen und sich im Haus verbarrikadiert. Aber weil sie sich nicht rührte, blieb auch er stehen.
»Mrs. Miller, können Sie sich an meine Mutter erinnern?«, zwang er sich zu fragen.
Erschreckt sah sie ihn an. Der Wind trieb eine braune Papiertüte über die Straße, riss sie in die Höhe, ließ sie wieder fallen und wirbelte sie erneut in die Höhe. Abgesehen davon war es in der Gegend vollkommen still. Wie immer. Keine laute Musik, keine bellenden Hunde. Die Leute kamen heim oder gingen zur Arbeit, nur an den Wochenenden konnte man sie im Garten werkeln sehen. Was seine Kindheit geprägt hatte – Nachbarschaftsfeste, Jungen und Mädchen auf Fahrrädern, die durch die Gärten tobten und sich zu Banden zusammentaten – war verschwunden. Heutzutage bildete jedes Haus ein eigenes Universum, und die Leute lebten nebeneinander her.
»Natürlich kann ich mich an sie erinnern.« Was schwang da in ihrer Stimme mit? Verachtung? Geringschätzung? Die Schlampe, die ihre Familie hat sitzen lassen? Natürlich kann ich mich an die erinnern.
»Können Sie sich an die Nacht erinnern, in der sie verschwand?«
Claudia schlug die Augen nieder und trat den Rückzug an.
»Das ist alles so lange her.«
Dabei wusste sie es noch genau. Jeder konnte sich noch an Marla Holt erinnern. Alle kleinen Jungen halten ihre Mutter für die Schönste, aber Marla Holt war tatsächlich eine strahlende Schönheit gewesen. Das kastanienbraune Haar floss über ihre Schultern, sie hatte dunkle Augen und eine kurvenreiche Figur und zog alle Blicke auf sich, wenn sie einen Raum betrat. Die Männer glotzten und lächelten, die Frauen schauten betreten auf ihre Hände. Sie war weder gertenschlank noch aufgedonnert, ihr Gesicht alles andere als makellos. Ihre Schönheit kam von innen, sie strahlte sie aus wie eine große Wärme. Selbst auf den wenigen Schnappschüssen, die er von ihr besaß, konnte Michael das sehen. Die Kamera liebte die Kontraste in ihrem Gesicht, die schwarzen Brauen und die roten Lippen, die sich deutlich von ihrer blassen Haut abhoben. Sie jammerte ständig, ihr Hintern sei zu dick, der kosmetische Aufwand zu groß – Augenbrauen zupfen, Beine
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