Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Im Laufe der Jahre hatte man ihr vorsichtig beigebracht, dass er zwar nur ihr Stiefvater sei, das aber nicht von Bedeutung sei, da er sie liebe wie sein leibliches Kind. Aber das stimmte nicht ganz, oder? Seine Liebe zu Willow war von der Liebe zu Willows Mutter abhängig. Und als er aufhörte, Bethany zu lieben, liebte er auch Willow nicht mehr. Er wollte nicht mehr ihr Vater sein.
Und als ihr das endlich klar wurde, spürte sie die Veränderung. Eigentlich war es keine Veränderung, sondern ein schrecklicher, hässlicher Mangel, eine Leere. Und sie wehrte sich nicht dagegen, obwohl sie tief in ihrem Herzen wusste, dass sie sich dagegen mit aller Kraft auflehnen sollte. Aber sie tat es nicht. Es war unmöglich. Es war, als trinke sie eine Flüssigkeit, von der ihr übel wurde, aber irgendwie gefiel ihr die Übelkeit.
Gleich bei der Ankunft in der Schule hatte sie Jolie entdeckt, die an ihrem Spind lehnte und Willow ein verstohlenes Lächeln zuwarf. Das Lächeln fragte: Süße, wollen wir kiffen gehen? Ja, sie wollte. Sie wollte high werden, so high, bis die ganze Welt nur ein schwarzer Punkt war, Millionen Kilometer von hier entfernt. Willow liebte dieses Lächeln. So viele Versprechen lagen darin.
»Hörst du zu, Willow?«
»Ja, ich höre zu.« Aber sie hatte sich erschreckt und auf jene schnippische Weise geantwortet, die ihre Mutter so hasste. Bethanys Gesicht verzog sich noch im selben Augenblick. Ihre gelöste und hoffnungsfrohe Miene veränderte sich innerhalb einer Millisekunde und nahm einen müden und enttäuschten Ausdruck an. Wahrscheinlich hatte es niemand außer Willow bemerkt. Sie hatte dieses Gesicht oft genug gesehen. Vermutlich ahnte Bethany gar nicht, wie sie jetzt aussah. Sie setzte diesen Gesichtsausdruck nicht absichtlich auf, im Gegensatz dazu, wenn sie streng oder gequält geduldig aussah. Dieser Gesichtsausdruck kam zum Vorschein, wenn alle Masken versagten.
»Kein Schwänzen mehr, Willow«, sagte Mr. Ivy. »Wenn du ein Problem hast, der Tag dich nervt, du mit anderen oder mit einem Lehrer in Konflikt gerätst, solltest du dich an mich wenden. Ich werde mir immer Zeit für ein Gespräch nehmen.«
Er meinte es ernst. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Er war kein Blender wie ihr Stiefvater Richard, der sie mit teuren Geschenken und »aufrichtigen« Entschuldigungen einlullen wollte. Mr. Ivy verlangte nichts im Gegenzug, er wollte nicht sein schlechtes Gewissen beruhigen oder sein Ego streicheln.
»Okay«, sagte sie, »ich verspreche es, Mr. Ivy.«
Sie lächelte ihn schüchtern an. Sie wollte beschämt und bemüht rüberkommen. Mr. Ivy schien es ihr abzukaufen, denn er lächelte zurück und nickte zufrieden. Er lehnte sich zurück. Bethany seufzte.
»Na dann. Wunderbar«, sagte Mr. Ivy.
»Tja«, sagte Bethany und klatschte sich leicht auf die Oberschenkel, »ich denke, wir sind heute ein gutes Stück weitergekommen.«
Wenn man gekonnt lügen wollte, kam es nicht nur auf die Wortwahl an. Es kam auf den Tonfall, die Mimik und Gestik an. In den besten Lügen steckte immer ein Körnchen Wahrheit. Und einige Details, aber nicht zu viele. Und am wichtigsten war, dass man selber dran glaubte.
Beim ersten Mal hatte sie wegen eines Britney-Spears-Konzertes gelogen. Ihr Vater – natürlich nannte sie ihn so, immerhin hatte sie nie einen anderen gekannt – hatte sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag dazu eingeladen. Plätze in der ersten Reihe, hatte er gesagt. Er versuche sogar, über einen seiner Patienten an Backstage-Pässe zu kommen, könne ihr aber nichts versprechen.
Sie hatte es allen erzählt, ihre Freundinnen wurden grün vor Neid und flehten Willow an, sie mitzunehmen. Ehrlich gesagt wäre sie lieber mit einer Freundin zum Konzert gegangen als mit ihrem Vater. Aber er hatte nur zwei Karten, und dass Willow ohne einen Erwachsenen dort hinging, kam nicht in Frage. Ihre Mom ging mit ihr zu Betsy Johnson und kaufte ihr ein neues Top und eine neue Jeans von Lucky Brand. Willow fühlte sich erwachsen, und nur selten verbrachte sie Zeit allein mit ihrem Dad. Vielleicht würde es gar nicht so öde werden, wie sie fürchtete.
Am Abend des Konzertes aßen Willow und Bethany Pizza und warteten, dass Willows Dad nach Hause kam. Sie tanzten zur neuen CD und benutzten Pfannenwender als Mikrofone. Richard wollte um sieben Uhr zu Hause sein, aber um Viertel nach sieben war er immer noch nicht da. Bethany rief in der Praxis an und hinterließ eine Nachricht auf seiner Mailbox.
»Sag Bescheid,
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