Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
Konsequenzen.
»Willow, hörst du zu?«
» Natürlich höre ich zu«, antwortete sie.
Beide starrten sie an. Willow richtete sich auf. Sie war zusammengesackt, ohne es zu merken.
»Ich verspreche, mich ins Zeug zu legen. Ich werde mich bessern.«
Das wollte Willow auch, ehrlich. Wenigstens in diesem Augenblick wollte sie ein Mädchen sein, auf das Bethany und Mr. Ivy stolz sein konnten. Als sie das Sprechzimmer verließen, war sie optimistisch gestimmt. Als sie ihre Mutter mit einer Umarmung verabschiedete und sich auf den Weg zum Mathe-Leistungskurs machte, war sie überzeugt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt zu haben.
Aber am Ende des Tages sank sie in die alte Lethargie zurück. Im Sportunterricht war sie bloßgestellt worden, weil sie beim Softball gestolpert war und ihrem Team den Sieg vermasselt hatte. In der Mittagspause hatte sie sich allein mit einem Buch hingesetzt, musste aber die fiesen Blicke und das Getuschel der Designertussen über sich ergehen lassen. Eigentlich hatten sie und Jolie zur gleichen Zeit Mittagspause, aber offenbar hatte sich Jolies Stundenplan im Zuge der Disziplinarmaßnahme geändert. Willow war überzeugt, dass Mr. Ivy seine Finger im Spiel hatte, weil er Jolies Einfluss auf Willow begrenzen wollte. Aber wenn Jolie dabei war, fürchtete Willow sich nicht mehr so vor den Harpyien; sie wirkten geradezu lächerlich, wenn Jolie Willow auf ihre Makel aufmerksam machte. Lola hatte einen dicken Hintern, Stacey war flach wie ein Brett, Emma war immer kurz vorm Heulen. Nein, eigentlich nicht. Jolie wollte nur witzig sein. Wenn Jolie nicht dabei war, konnte Willow nicht anders, als die Mädchen anzustarren. Was war das nur, lag es in ihren Genen? Wie kam es, dass ihr Haar so seidig, ihre Haut so zart, ihre Körper so makellos waren? Und warum waren sie deswegen so böse? So gemein? Setzten sie ihre Schönheit als Schutzschild ein? Sie verletzten andere, ohne jemals selbst verletzt zu werden. Ihre Makel waren innerlich; niemand konnte sie sehen und darüber lästern.
An den Rand ihres Ringblocks kritzelte sie: Stöcke und Steine brechen meine Beine, aber Worte brechen mir das Herz.
Im Chemieunterricht schaltete sie auf Durchzug, sie hatte die Hausaufgaben ohnehin nicht erledigt. Der Lehrer verwarnte sie; nun würde sie zusätzliche Hausaufgaben machen müssen, um das Versäumnis auszumerzen.
Als sie wieder vor ihrem Spind stand und ihre Sachen herausholte, kämpfte sie mit den Tränen, so wütend und enttäuscht war sie.
»Schlimmer Tag?« Die Stimme klang rauchig, schelmisch und einladend.
»Nicht schlimmer als sonst«, log Willow und drehte sich lächelnd zu Jolie um.
»Ich habe dich mit deiner Mom reinkommen sehen. Du sahst schrecklich aus. Tust du immer noch. Lass dir nichts gefallen, Süße. Lass dich nicht unterkriegen.«
Willow zuckte die Achseln. Jolie kaute an ihren Fingernägeln herum und warf ihr unter den langen, von bröckelnder Mascara beschwerten Wimpern einen kecken Blick aus ihren leuchtend grünen Augen zu. Willow bemerkte, dass der schwarze Lack auf Jolies Fingernägeln zu kleinen schwarzen Inseln auf der Nagelmitte geschrumpft war.
»Schöner Mantel«, sagte Willow. Jolie trug einen schwarzen Wollmantel in A-Linie.
»Secondhand«, sagte Jolie und drehte sich um die eigene Achse. »Zwölf Dollar. Schick, was?«
Der Mantel hätte tatsächlich schick ausgesehen, wäre er nicht voller Flecken und weißer Tierhaare gewesen. Von Jolie ließ sich dasselbe sagen. Sie war hübsch, aber ungepflegt. Sie hatte porzellanweiße Haut, aber Akne am Kinn. Ihr rabenschwarzes Haar sah immer fettig aus. Irgendetwas an ihr machte Willow nervös.
»Lass uns spazieren gehen«, sagte Jolie.
»Ich muss nach Hause. Ich habe meiner Mom und Mr. Ivy versprochen, mich mehr anzustrengen.«
»Dann ruf deine Mom an und sag ihr, du würdest bleiben und in der Schulbücherei lernen. Nimm einen späteren Bus.«
Wieder dieses Lächeln. Willow mochte Jolie, denn in ihrer Nähe fühlte sie sich entspannt und wie befreit von dem Zwang, Lügen erfinden zu müssen.
»Komm«, sagte Jolie. Sie stupste Willow sanft mit der Schulter an. »Üben kannst du später noch. Ich möchte dir jemanden vorstellen.«
Also rief Willow ihre Mutter an, die skeptisch klang, aber sie war müde, sodass sie es ihr durchgehen ließ. Willow und Jolie hingen für eine Weile in der Bücherei ab. Sie saßen vor aufgeschlagenen Büchern und versuchten, fleißig auszusehen, während sie einander Zettelchen
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