Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
zuschoben und auf Bethanys Rückruf warteten, der fünfzehn Minuten später prompt erfolgte.
»Sie ist hier, Mrs. Graves«, sagte Mrs. Teaford, die Schulbibliothekarin, ins Telefon. »Sie lernt.«
Jolie vergrub das Gesicht in der Armbeuge, damit niemand sie lachen sah. Als Mrs. Teaford gerade von einer Gruppe von Schülern abgelenkt wurde, die Bücher ausleihen wollten und tausend Fragen stellten ( was für Streber!), schlichen Willow und Jolie hinaus. Sie rannten lachend durch den langgezogenen, grau gestrichenen Korridor, stießen eine Seitentür auf und fanden sich in der kalten Herbstluft wieder, die ihr Gekicher in den Himmel hinauftrug. Willow wusste nicht einmal, worüber sie lachte, nur dass sie sich zum ersten Mal an diesem Tag gut fühlte. Bis der letzte Bus fuhr, blieben ihr noch eineinhalb Stunden, in denen sie ganz sie selbst sein konnte. Danach würde sie nach Hause fahren und versuchen so zu sein, wie die anderen sie haben wollten.
ZEHN
A uf den ersten Blick hätte Jones Paula Carr nicht sonderlich attraktiv gefunden. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die ein Mann einer dreiteiligen Prüfung unterzog: Gesicht, Brüste, Hintern – nicht notwendigerweise in der Reihenfolge. Sie hatte Kinder, trug das kastanienbraune Haar praktisch kurz geschnitten und kaum Make-up, abgesehen von etwas Lipgloss. Sie trug eine verwaschene Jeans, einen gerippten Rollkragenpullover und Turnschuhe – nichts davon war sexy. Aber nachdem er zwanzig Minuten neben ihr gesessen hatte, während sie nervös erzählte und währenddessen das Baby fütterte, die Arbeitsplatte abwischte, Eier kochte, die Kleine hinlegte und sich schließlich mit einer Tasse Tee wieder zu ihm setzte, war er fasziniert von ihr – von ihren vollen, roten Lippen, den hohen Wangenknochen, den dunkelbraunen Augen.
»Tut mir leid«, sagte sie, als sie endlich wieder saß, »Sie haben sich wahrscheinlich schon gefragt, warum ich Sie angerufen und um einen Hausbesuch gebeten habe.«
Er hatte sich das tatsächlich gefragt. Er hatte sie zurückgerufen, und sie hatte ein Treffen am frühen Nachmittag des nächsten Tages vorgeschlagen.
»Selbstverständlich werde ich Sie für die Zeit bezahlen«, hatte sie hastig angefügt. »Die Kleine wird schlafen, und die beiden Jungs kommen erst später nach Hause zurück.« Sie hatte geflüstert, so als wollte sie nicht gehört werden, vielleicht hatte sie aber auch bloß das Baby nicht wecken wollen. Er wusste es nicht. Er hatte sie zurückgerufen, um ihr zu sagen, dass er keine Häuser außerhalb der direkten Nachbarschaft betreue, aber irgendetwas in ihrer Stimme stimmte ihn um. Am Ende des Telefonats versprach er ihr, am nächsten Tag vorbeizukommen.
Maggie hatte gesagt: »Du kannst nie widerstehen, wenn Not an der Frau ist.«
»Wer spricht denn hier von Not? Vielleicht sucht sie nur jemanden, der ihre Blumen gießt, während sie in die Karibik jettet.«
»Das hätte sie dir am Telefon verraten.«
Als Paula ins Stocken geriet, zog Jones seinen Mantel aus. In dem sonnigen Esszimmer kam es ihm drückend heiß vor. Paula starrte in ihren Teebecher, fuhr mit dem Zeigefinger über den Rand. Ihre Nägel waren kurz. An der linken Hand trug sie einen dicken Diamantring. Verheiratet, aber womöglich nicht allzu glücklich. Er hätte nicht einmal sagen können, wie er auf diesen Gedanken kam. Aber irgendetwas an dem Haus war seltsam. Jones kam bloß nicht drauf, was.
»Im Sommer hat uns der sechzehnjährige Sohn meines Mannes besucht. Er stammt aus der ersten Ehe meines Mannes. Er sollte nur kurz bleiben.«
»Okay.«
»Am Anfang war ich ein bisschen in Sorge, ich meine, Kevin ist den ganzen Tag bei der Arbeit, wie sollte ich den Jungen den ganzen Sommer über beschäftigen? Ich habe zwei Kinder und hetze mich ohnehin schon den ganzen Tag ab. Aber was soll man machen? Seiner Mutter ging es schlecht, Cole hat seinen Vater gebraucht. Tja, und deswegen kam er her.«
Sie schaute an die Zimmerdecke, und Jones folgte ihrem Blick, bis er merkte, dass sie mit den Tränen kämpfte. Als sie ihn wieder ansah, lächelte sie beschämt, hatte sich aber wieder im Griff.
»Tut mir leid.« Schon zum vierten Mal seit seiner Ankunft entschuldigte sie sich für eine Kleinigkeit.
»Ist doch in Ordnung«, sagte er, »lassen Sie sich Zeit.«
Sie nippte an ihrem Tee.
»Jedenfalls kam Cole hier an. Und raten Sie mal, was passiert ist? Er ist ein süßer Junge. Hilft mir den ganzen Sommer im Haushalt. Ist lieb zu den Kindern. Nach ein
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