Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
sogar vor, dass die Vision sich erst nach einer solchen Kontaktaufnahme einstellte, so als sei sie die Antwort auf eine Frage. Genauso häufig passierte nichts. Oft musste Eloise die Leute enttäuschen, manchmal wurden sie regelrecht böse. Eloise hatte Verständnis dafür.
Auch sie war wütend gewesen, damals, als man ihr Alfie und Emily genommen hatte. Sie hatte einen Schuldigen gesucht und nach Rache gedürstet. Die Wut war wie ein Wurm gewesen, der sie von innen auffraß und ihre Eingeweide zerwühlte. Sie wollte, dass der Lastwagenfahrer bezahlte. Er war medikamentensüchtig gewesen, hatte zum Wachbleiben Amphetamine und zum Runterkommen Beruhigungsmittel geschluckt. An jenem Morgen holte seine Sucht ihn ein. Er schlief am Steuer ein und rammte das Auto von Eloises Familie. Und er selbst bekam keinen einzigen Kratzer ab.
Eloise hatte ihm den Tod gewünscht, dass er alles verlor, was ihm lieb und teuer war – seine Familie, sein Geld, seine ganze Welt. Er sollte zehnmal so viel leiden wie sie. Nachts lag sie wach. Einmal, kurz vor dem Prozess, stellte sie sich vor, dass sie eine Waffe kaufte, sie in den Gerichtssaal schmuggelte und ihn erschoss. Nur Amanda hatte sie davon abgehalten, Amanda, ihr blasser, kleiner Engel. Sie hatte nur noch ihre Mutter. Eloise machte sich klar, mit welch stoischer Gelassenheit ihr Kind alles über sich hatte ergehen lassen. Sie würde weiter leiden und eines Tages daran zugrunde gehen, und dann hätte Eloise keinen Grund zum Weiterleben mehr.
Aber dann lernte sie Barney Croft kennen, den Mann, der ihre Familie ausgelöscht hatte. Sie sah ihm ins Gesicht und erkannte, dass seine Sucht, seine Schuldgefühle, sein armseliges Leben ihn kaputtgemacht hatten. Er stand draußen vor dem Gericht neben seinem Anwalt. Der Anwalt hatte ihm eine Hand auf die Schulter gelegt. Croft rauchte. Eloise hatte sich in ihr Auto gesetzt, um in Ruhe zu weinen. Danach wollte sie ins Gericht zurück, um dem zweiten Teil der Beweisaufnahme beizuwohnen. Sie ging auf Croft zu, sie konnte nicht anders. Sie wollte, dass er sie sah, dass er sah, was er ihr angetan hatte.
Der Anwalt entdeckte sie zuerst und hob die Hand, wie um sie abzuwehren. Croft drehte sich um. Sie sah ihn erblassen, während ihr Herz zu hämmern anfing und ihre Kehle sich zuschnürte.
»Oh Gott«, sagte er. Eloise roch Elend und Zigarettenqualm. »Vergeben Sie mir. Bei Gott, vergeben Sie mir!« Er schlug sich die Hände vors Gesicht und fing zu weinen an, bis sein ganzer Körper vom Schluchzen geschüttelt wurde. Die Zigarette steckte immer noch zwischen seinen dicken, kurzen Fingern.
Vielleicht fing in dem Moment alles an. Denn als Eloise vor ihm stand, konnte sie sehen , wie das Schicksal ihn zermalmt hatte. Sie sah es an seiner fahlen Haut und den tiefen Augenfalten, an seinen schmalen Lippen. Sie sah , dass er LKW fuhr, um seine Familie zu ernähren, dass er Tabletten nahm, um länger arbeiten zu können und mehr zu verdienen. Dass er die Tabletten brauchte, um schlafen zu können. Dass der menschliche Körper nicht dazu gemacht war, mit Drogen und schlechtem Essen vollgestopft zu werden und über dunkle Highways zu rasen. Sie sah überdeutlich, wie ein Mensch aus einer guten Absicht heraus alles falsch macht und am Ende andere mit ins Unglück reißt.
»Ja«, sagte sie, »ich vergebe Ihnen.«
Sie meinte es ehrlich. Der Wurm in ihren Eingeweiden begann zu schrumpfen. Vor dem Urteilsspruch forderte sie Milde für den Angeklagten und nahm seine Bitte um Vergebung vor dem Richter und vor laufenden Kameras an. Der Wurm schrumpfte noch ein Stück. Im selben Moment fing Amanda an, sich von ihr abzuwenden.
Auf dem Schreibtisch stand ein Foto von ihrer inzwischen erwachsenen Tochter und den beiden Enkelkindern, Alfie und Emily. Eloise hatte gegen die Wahl protestiert, denn sie hielt nichts davon, die Lebenden nach den Toten zu benennen. Amanda war glücklich verheiratet, eine erfolgreiche Wirtschaftsprüferin und liebevolle Mutter, und sie war so weit von Eloise fortgezogen wie nur möglich – nach Seattle.
Unten ging die Haustür, dann hörte Eloise schwere Schritte auf der Treppe. Wenn sie die Tür nicht abschloss, kam Ray einfach ins Haus gestapft, so als sei es unter seiner Würde zu klingeln.
»Eloise?«
Oliver, verärgert über die Störung, sprang von ihrem Schoß und lief an Ray vorbei.
»Ich hasse diesen Kater.«
»Ich glaube nicht, dass er dich besonders mag«, entgegnete Eloise.
Ray setzte sich ihr gegenüber, stellte
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