Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
auf dem Bett aus. Ray blieb kurz in der Tür stehen, und sie erinnerte sich daran, wie es mit ihm gewesen war. Wie er sie, so wie jetzt, nachts besucht hatte und sie sich bei voller Beleuchtung geliebt, ihre körperlichen Makel nicht voreinander verborgen hatten. Sie erkannten und verstanden einander. Wenn sie auf diese Weise verschmolzen, rückten die Toten und Vermissten, die Flüchtigen, das Blut und der Horror für eine Weile in den Hintergrund, und dann erlebten sie einen kurzen Moment der Freude und des Trostes in dieser tristen, grauen Welt.
Ray kam ans Bett und beugte sich über sie. Kurz glaubte sie, er wolle sie berühren. Sie würde ihn nicht zurückweisen, sie würde ihn nehmen und sich nehmen lassen. Sie wusste, er dachte dasselbe, er fragte sich, wie es nach all der Zeit wäre. Dann wandte er den Blick ab und schaute auf ihre Füße. Er zog ein Paar Schuhe aus der alten Papiertüte, alte Laufschuhe. Vorsichtig streifte er sie über Eloises Füße. Dann setzte er sich in den Sessel in der Ecke. Sie warteten.
SECHZEHN
B ethany Graves kochte, weil sie das beruhigte. Scheinbar hatte sich die ganze Welt verschworen, um sie vom Schreiben abzuhalten, die einzige andere Tätigkeit, die ihr großen Trost spendete. Manchmal bekam sie den Eindruck, jede Seite erkämpfen, dem Leben in mühsamer Kleinarbeit alles abtrotzen zu müssen. Die Inspiration war ein flatterhafter, scheuer Vogel, der schon bei der kleinsten Störung aufschreckte und davonflog. Der Appetit dagegen und die Notwendigkeit, zu kochen und zu essen, waren pünktlich und verlässlich und mündeten in einem Ritual, das bei den Graves täglich zelebriert wurde.
Im Moment konnte sie nicht einmal mehr mit Willow reden . Ihre Tochter saß schmollend auf dem Wohnzimmerteppich und brütete über den Hausaufgaben, die auf dem Sofatisch ausgebreitet lagen, obwohl in die Bücherwand ein hübscher, kleiner Schreibtisch eingelassen war. Aber so war Willow nun einmal. Sie wählte niemals den Weg des geringsten Widerstandes.
Mit schnellen, geschickten Bewegungen zerhackte Bethany den Knoblauch auf dem Küchenblock. Sie gab die Stücke in die Pfanne mit dem siedenden Olivenöl, lauschte zufrieden dem Brutzeln und atmete den aromatischen Duft ein. Frischer Knoblauch in heißem Olivenöl – gab es etwas Köstlicheres? Kurz bevor der Knoblauch braun wurde, kippte Bethany die geschälten Tomaten darüber. Sie zupfte Basilikum klein und gab es dazu. Dann drehte sie die Hitze herunter und rührte. Am Wochenende hatte sie Hackbällchen eingefroren; sie warf sie in die Tomatensauce, legte den Deckel auf und stellte die Hitze auf kleinste Flamme. Sie setzte Nudelwasser auf und wusch den Salat. Spaghetti mit Fleischklößchen waren Willows Leibgericht. Bethany hätte gedünsteten Viktoriabarsch mit Brokkoli servieren sollen, weil Willow sich davor ekelte, aber heute brauchten sie beide ein wenig Trost.
Sie braucht keinen Trost, sie braucht einen kräftigen Tritt in den Hintern, hätte Bethanys Mutter gesagt. Bethany hatte sich nie mit ihrer Mutter verstanden, daran hatte sich bis zu deren Todestag nichts geändert.
Bethany ließ sich hinter Willow auf das Sofa sinken, die sich nicht einmal umdrehte. Das Zimmer sah genau so aus, wie Bethany es sich vor dem Einzug erträumt hatte: hohe Decken, die Wände voller Bücherregale, ein wuchtiges, cremeweißes Sofa und ein moderner Flachbildfernseher. Schaute man aus dem Fenster, sah man nichts als Bäume.
»Dein Vater will uns am Wochenende besuchen«, sagte sie, um Willow ein Friedensangebot zu machen. Seit dem Kreischduell im Auto hatten sie kein Wort mehr gewechselt. Willow hasste The Hollows, sie hasste ihr Leben und ihre Mutter, das hatte sie Bethany lautstark und in aller Deutlichkeit klargemacht. Bethanys Ohren klingelten immer noch.
Willow schnaubte.
»Du meinst Richard?«
Bethany holte tief Luft.
»Ja, Richard.«
»Hat seine Freundin ihn verlassen?«
Bethany streckte eine Hand aus, um Willows seidiges Haar zu berühren, das in allen Gold- und Rotfacetten schimmerte. Willow trug es zu einem wilden, asymmetrischen Bob geschnitten. Bethany liebte es, Willows Haare zu berühren.
»Tut mir leid, Mom.« Willow drehte sich um.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Willow. Ich möchte einfach nur, dass du deine Versprechen einhältst.«
»Ich weiß. Ich wollte nur …« Willow stützte das Kinn auf die Hand.
»Ich weiß. Du möchtest Freunde haben. Du möchtest beliebt sein. Aus diesem Grund lügst du mich
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