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Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)

Titel: Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Unger
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schluchzen. Am liebsten hätte er sie umarmt und getröstet. Aber er hätte es selbst dann nicht gekonnt, wenn sie direkt neben ihm gestanden hätte. Er ertrug keine körperliche Nähe, nicht mit ihr. Denn sie sah ihrer Mutter so ähnlich. Tatsächlich telefonierte er mindestens ein Mal im Monat mit seiner Schwester, hatte sie aber seit über drei Jahren nicht gesehen.
    »Ich muss jetzt auflegen«, sagte sie. »Ich habe dich lieb. Pass auf dich auf, okay?«
    Sie hatte aufgelegt, noch bevor er antworten konnte. Seither hatte er nicht mehr mit ihr gesprochen. Sie hatte einen Kranz für Macks Grab geschickt. Auf der Karte stand: Ruhe in Frieden . Wünschte sie ihm das wirklich? Oder sagte man das nur so? Die Höflichkeiten, die die Leute ständig austauschten, um ihre Wut und ihren Hass zu maskieren, um ihre Abneigung zu verbergen, fand Michael sehr verwirrend.
    Er schaute sich in dem zertrümmerten Raum um. Die Küche hatte schon zuvor furchtbar chaotisch ausgesehen. Michael hatte alle organischen Rückstände entfernt, sodass es tatsächlich schon besser roch. Wenigstens wenn er die Atemmaske trug. Aber indem er die Küchenschränke von den Wänden geholt hatte, hatte er aus dem Raum eine Baustelle gemacht. Ehrlich gesagt wurde Michael erst jetzt klar, dass er keine Ahnung davon hatte, wie man eine neue Küche einbaute oder einen neuen Fußboden verlegte. Er verstand sich selbst nicht mehr. Hatte er die Renovierung als Vorwand benutzt, um den Abriss einzuleiten? Oder war ihm der Gedanke zu renovieren erst gekommen, als er längst zum Hammer gegriffen und sein Zerstörungswerk begonnen hatte? Er konnte sich ehrlich nicht erinnern. Er hatte noch nie eine Wand gestrichen. Tammy hatte recht. Er würde eine Entrümpelungsfirma beauftragen.
    Dabei erfüllte ihn der Gedanke, ein Haufen Fremder könnte durchs Haus stapfen und alles, was von ihr geblieben war, auf den Müll werfen, mit Schrecken. Es war viel einfacher, an den kläglichen Überresten festzuhalten als loszulassen. Am Ende war er nicht anders als sein Vater.
    Er hörte es wieder an der Haustür klopfen und verließ die Küche. Er fürchtete, Tammy könnte ins Auto gesprungen und hergekommen sein, um sich anzusehen, was er getan hatte. Oder dass Jones Cooper zurückgekommen war, um noch mehr Fragen zu stellen, die Michael weder beantworten wollte noch konnte. Coopers Besuch hatte ihn verstört, vor allem weil er sich an jenen Abend kaum erinnern konnte und selber so viele Fragen hatte. Er dachte an Jones Coopers harten, durchdringenden Blick. Jones Cooper durchschaute die Leute, egal, was sie ihm erzählten. Er sah Dinge, von denen man selbst nichts ahnte.
    »Michael, sind Sie da?«
    Es war Ray Muldune, in der Hand die braune Papiertüte, in der, wie Michael wusste, Marlas Turnschuhe steckten. Ray blieb im Eingangsbereich stehen und schlug sich die Hand vor den Mund.
    »Ich habe versucht, Sie anzurufen«, sagte er.
    Er zog ein seltsames Gesicht. Michael mochte Ray sehr. Ray sagte immer, was er dachte, auch wenn es unhöflich, taktlos oder hässlich war.
    »Hat es funktioniert?«, fragte Michael.
    Ray zuckte unentschlossen die Achseln und nickte knapp.
    »Sie hat etwas gesehen, aber ich weiß nicht, was es zu bedeuten hat.«
    »Erzählen Sie es mir.«
    Michael hatte sich nie von ihr trennen wollen. Selbst als er schon viel zu alt dafür war, hing er ihr ständig am Rockzipfel. Wenn er bei einem Freund übernachten sollte, schlich er sich oft am späten Abend davon, um mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren, was am nächsten Morgen, wenn sein Fehlen bemerkt wurde, oft für großes Durcheinander sorgte. Er schlief nicht gerne woanders. Sie brauchte ihn. Sie hatte es selbst gesagt. Sie brauchte Michael noch mehr, als sie Cara oder seinen Vater brauchte. Vielleicht hatte sie es gar nicht gesagt? Michael wusste es nicht mehr, aber er meinte es zu spüren. Aus diesem Grund verstand er bis heute nicht, wie sie ihn hatte im Stich lassen können.
    In jener Nacht hatte sie ihn fortgeschickt. Daran erinnerte er sich nur zu gut. »Schätzchen, du bist ein großer Junge. Die meisten Kinder übernachten gern bei Freunden – Pizza, Gruselfilme, Süßigkeiten bis zum Abwinken. Du willst doch nicht ganz allein in deinem Zimmer sitzen, während deine Freunde sich amüsieren?«
    Aber waren das wirklich seine Freunde? In der Grundschule war Brian sein bester Freund gewesen. Sie waren im Wald hinter Michaels Elternhaus herumgestreift, hatten die verfallenen Gebäude erkundet und waren,

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