Gnade deiner Seele: Psychothriller (German Edition)
die wir geschaltet haben, und die Gespräche mit den Zeugen von damals haben nichts gebracht. Ich weiß nicht, was ich noch tun soll, wenn Eloise nicht bald eine heiße Spur entdeckt.«
Angst packte Michael. Er wollte mit dem Problem nicht alleingelassen werden. Ray war der Einzige, der ihn nicht für vollkommen verrückt hielt, weil er seine Mutter finden wollte. »Sie wollen aufgeben?«, fragte er.
»Nein, ich möchte einfach nur ehrlich zu Ihnen sein.«
»Ich habe mir überlegt, eine Webseite für sie einzurichten, Sie wissen schon, mit alten Fotos und mit detaillierten Informationen. Die verlinke ich dann mit den Suchmaschinen. Außerdem könnte ich eine Facebook-Seite einrichten.«
»Und das alles tun Sie, weil …?«
»Weil heutzutage jeder online ist, vielleicht sogar sie selbst, falls sie noch lebt«, antwortete Michael. Plötzlich wurde er ganz aufgeregt. Das war eine gute Idee. »Vielleicht googelt sie sich eines Tages selbst, und dann sieht sie, was wir auf die Beine gestellt haben, nur um sie zu finden. Dann wird sie wissen, dass wir sie wirklich zurückhaben wollen, dass wir kein bisschen sauer auf sie sind, dass wir nur nach Erklärungen suchen.«
Ray schaffte es nicht, seine Gefühle zu verbergen. Michael tat so, als bemerke er das unverhohlene Mitleid in den Augen seines Gegenübers nicht.
»Eine gute Idee«, sagte Ray. »Man weiß nie, was eine Ermittlung letztendlich ins Rollen bringt. Manchmal reicht ein kleiner Impuls aus. Sie oder jemand, den sie kennt, müsste sich einfach nur an den Computer setzen und ihren Namen eingeben.«
»Genau«, sagte Michael, »so habe ich es mir vorgestellt.«
»Dann geben wir Eloise noch ein oder zwei Tage Zeit und sehen dann weiter, okay?«
»Okay«, sagte Michael. Dann fügte er hinzu: »Es tut mir leid, aber ich kann Sie erst bezahlen, wenn ich das Haus verkauft habe.«
»Ich weiß«, sagte Ray. »Keine Sorge, wir werden uns schon einig.«
Auf der Telefonleitung über der Straße saßen zwei gurrende Trauertauben. Es war fast schon Mittag, und der Tag kam Michael ungewöhnlich warm vor. Er wunderte sich über Ray, der einen dunklen Wollmantel und eine Strickmütze trug. Das Laub der Bäume ringsum war nicht mehr goldgelb, sondern hatte sich braun verfärbt. Seine Mutter hatte den Herbst immer gehasst. Alles stirbt ab , hatte sie geklagt. Im Frühling kommt es zurück , hatte er gesagt. Sie hatte genickt und dabei nicht sehr überzeugt ausgesehen. Natürlich, mein Schatz.
EINUNDZWANZIG
A m nächsten Tag erschien Jolie nicht zum Unterricht. Das war nicht ungewöhnlich; manchmal bekam Willow den Eindruck, Jolie wäre mehr ab- als anwesend. Jolie gab sich mit durchschnittlichen Noten zufrieden, aber oft dachte Willow, dass sie eigentlich viel besser sein könnte. Jolie war das egal. Kam Willow einmal mit einer Drei nach Hause, flippte ihre Mutter aus. Für sie musste es mindestens eine Zwei sein. Und auch du solltest dich nicht mit weniger zufrieden geben, junge Dame. Willow fand das komisch, schließlich war ihre Mutter früher die Rebellin gewesen, die Künstlerseele, und sie hatte ihrer Tochter beigebracht, sich keiner Autorität zu beugen. Aber sobald es um Noten ging, war sie so konservativ wie Laura Bush. Eine gute Ausbildung ist das A und O. Wenn du in der Schule gut bist und viel lernst, steht dir die Welt offen . Ob das stimmte? Hatten die vielen Obdachlosen in Manhattans Parks und Bahnhöfen in der Schule einfach nicht aufgepasst? Reichten Algebra- und Biologiekenntnisse aus, um im Leben glücklich und erfolgreich zu werden?
Willow schleppte sich durch den Tag. Auch von Cole war weit und breit nichts zu sehen, dabei hielt sie in den Pausen immer wieder nach ihm Ausschau. Vielleicht, dachte sie, schwänzen er und Jolie zusammen? Ja, bestimmt war es so. Sicher hatten die zwei sich zusammengetan, nachdem Willow von ihrer Mutter öffentlich gedemütigt, nach Hause geschleppt und zu lebenslangem Hausarrest verdonnert worden war. Sie hasste ihr Leben!
Mr. Vance war nicht mehr ihr Freund. Obwohl er sich im Unterricht so nett wie immer gab und sie für ihr gelungenes Essay lobte, wusste sie, dass sie nach dem Klingeln nicht in der Klasse bleiben konnte, um mit ihm über den aktuellen Lesestoff zu plaudern. Ein anderer Frieden von John Knowles. Eine bahnbrechende Erzählung über das Erwachsenwerden. Eine enge Jugendfreundschaft gerät in Schieflage. Auseinandersetzung mit den eigenen, hässlichen Gefühlen. Hat Gene den Zweig absichtlich umgeknickt?
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