Gnade
am liebsten die Seele aus dem Leib prügeln würde, weil er die Nacht in Michelles Bett verbracht hatte. Es war ihm vollkommen gleichgültig, dass es ihn eigentlich nichts anging, mit wem sie sich einließ. Sie war seine kleine Schwester, und Theo hatte sie nur ausgenutzt, davon war John Paul überzeugt.
»Meine Schwester ist eine sehr begabte Chirurgin«, stieß John Paul durch zusammengebissene Zähne hervor.
»Ich weiß.«
»Sie hat die meiste Zeit ihres Lebens der Ausbildung gewidmet.«
»Was wollen Sie mir damit sagen?«
»Sie hat nicht viel Erfahrung mit Männern. Sie weiß nicht, was für Scheißkerle es gibt.«
»Sie ist erwachsen.«
»Sie ist naiv.«
»Wer ist naiv?«, wollte Michelle wissen, die gerade auf den Tisch zusteuerte.
»Nicht so wichtig«, sagte ihr Bruder und blitzte Theo böse an. Er war auch wütend auf Michelle, nicht nur, weil sie sich mit einem Fremden eingelassen und sich damit verletzbar gemacht hatte, sondern vor allem, weil sie sich einen Bundesanwalt ausgesucht hatte. Das war beinahe unverzeihlich.
»Mike, wir beide müssen miteinander reden.«
Sie ignorierte den zornigen Unterton ihres Bruders. »Ben zieht sich an und ist in zehn Minuten bei mir zu Hause. Außerdem schickt er ein paar Streifenwagen los, die den Toyota aufspüren sollen. Ich hab ihm gesagt, dass es drei bis vier Männer waren, vielleicht auch mehr.«
»Weißt du, wo Daddy das Tylenol aufbewahrt?«, fragte sie ihren Bruder.
»Über der Spüle in der Küche. Soll ich es holen?«
»Das mach ich schon. Theo, wir sollten wirklich sofort ins Krankenhaus fahren«, sagte sie, bevor sie hinausging.
»Das kann warten.«
Michelle kam mit einem Fläschchen Tylenol und zwei Gläsern Wasser zurück. Unter ihrem Arm klemmten zwei Tüten mit gefrorenem Gemüse. Sie stellte das Tylenol sowie die Gläser auf den Tisch und hielt die Tüten in die Höhe.
»Erbsen oder Möhren?«
Theo schraubte die Tylenol-Flasche mit dem kindersicheren Verschluss auf. »Möhren.«
Sie knetete den Beutel zwischen den Fingern, um die gefrorenen Stücke zu zerkleinern, und legte ihn auf Theos Knie.
»Gut so?«
»Ja, danke!«
Dann drückte sie sich die Tüte mit den Erbsen an die Stirn. Theo zog sie auf seinen Schoß. »Lass mich mal sehen.«
Seine Besorgnis berührte sie. Sie holte tief Luft und sagte: »Es ist nur eine kleine Beule. Ehrlich, kein …«
»Schsch«, machte er, schob behutsam ihre Hand beiseite und zog ihren Kopf zu sich heran, damit er die Verletzung in dem trüben Licht in Augenschein nehmen konnte.
Je länger John Paul diese Szene beobachtete, desto niedergeschlagener wurde er. Es war kaum zu übersehen, dass Theo seine Schwester sehr mochte, und es gab nichts, was John Paul dagegen unternehmen konnte. Ein Typ vom Justizministerium! Wie konnte sich Michelle bloß in so jemanden verlieben?
»Mist!«, knurrte er leise.
Michelle und Theo beachteten ihn gar nicht.
»Ich sage doch, es ist nichts Schlimmes.«
»Du hast eine riesige Beule.«
»Ja, ist schon gut.«
Theo strich ihr zärtlich die Haare aus dem Gesicht.
John Paul konnte diesen Anblick nicht länger ertragen. »Mike, steh auf und setz dich auf einen Stuhl!«
»Ich glaube, dein Bruder kann mich nicht leiden«, stellte Theo lächelnd fest. Unter John Pauls grimmigem Blick gab er Michelle einen Kuss auf die Stirn. »Wann hast du dir denn den Kopf angeschlagen? Als die Schlange auf dich gefallen ist?«
Sie rutschte von seinem Schoß und setzte sich auf den Stuhl neben ihm.
»Was für eine Schlange?«, wollte John Paul wissen.
»Eine Baumviper hat sich von oben ins Boot fallen lassen«, erklärte Michelle ihrem Bruder.
Theo griff nach dem Tylenol-Fläschchen und schüttete zwei Tabletten in Michelles offene Hand. »Theo, wir müssen ins Krankenhaus und nach diesem Umschlag suchen.«
»Wovon sprichst du? Welcher Umschlag?«, fragte Theo.
Michelle stützte den Ellbogen auf den Tisch, drückte den Beutel mit den Erbsen gegen ihre Stirn und sagte: »Ich habe einen der Männer erkannt.«
»Das sagst du mir erst jetzt?« Er richtete sich so ruckartig auf, dass der Beutel von seinem Knie rutschte. John Paul fing ihn auf und legte ihn unsanft wieder auf Theos Knie.
Michelle zuckte heftig zusammen, weil Theos Schmerzensschrei ihr noch stärkeres Kopfweh bescherte. »Der Mann, der auf uns zurannte, als wir zu meinem Boot wollten, den habe ich erkannt. Du hast die Taschenlampe auf sein Gesicht gerichtet, erinnerst du dich? Es war der Bote vom Speedy Messenger
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