Gnade
Hier befanden sie sich unter vielen Menschen und waren absolut sicher.
»Geh doch nicht so schnell! Mit wem muss ich sprechen, um ein paar Leute vom Personal für die Suche zu gewinnen?«, fragte Theo.
»Diese Leute haben alle zu tun, Theo.«
»Aber diese Sache ist sehr wichtig.«
»Du könntest den Verwalter anrufen. Er kommt für gewöhnlich um acht Uhr, aber er wird bestimmt nicht mit dir kooperieren. Er mag es nicht, wenn seine Routine gestört wird.«
»Na toll!«, sagte Theo. »Michelle, du rennst regelrecht, bitte geh doch etwas langsamer.«
»Und du trödelst, hast du vielleicht Angst vor ein paar Stichen?« Sie konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Fürchtest du etwa, dass ich dir wehtue?«
»Nein, ich mag nur keine Nadeln.«
»Ich auch nicht«, sagte sie. »Ich falle in Ohnmacht, sobald ich eine sehe.«
»Das ist nicht lustig, Michelle.«
Sie fand es jedoch sehr lustig und lachte aus vollem Hals. Frances, die Krankenschwester mit dem stets grimmigen Blick, stand vor einer der Behandlungskabinen. Sie zog den Vorhang beiseite. »Alles ist bereit, Frau Doktor.«
Während die Schwester das Kopfteil hochstellte, klopfte Michelle mit der flachen Hand auf die Untersuchungsliege. Theo setzte sich und beobachtete, wie Michelle die Gummihandschuhe anzog. Die Schwester lenkte ihn ab, indem sie mit einer Schere auf ihn zukam und sich an seinem T-Shirt zu schaffen machen wollte. Er schlüpfte kurzerhand aus dem Ärmel, und während die mürrische Schwester die Haut rund um seine Wunde mit einem stark riechenden Desinfektionsmittel abtupfte, nahm er sein Handy aus der Tasche und fing an zu wählen.
»Sie dürfen im Krankenhaus kein Handy benutzen«, machte Frances ihm klar und versuchte ihm das Telefon aus der Hand zu nehmen.
»Finger weg!«, hätte er am liebsten gesagt, aber er verkniff es sich. Er schaltete das Handy aus und legte es auf den Tisch neben der Liege. »Dann holen Sie mir ein normales Telefon.«
Offenbar war sein Ton nicht gerade freundlich, und Frances’ Miene verfinsterte sich noch mehr, obwohl das kaum möglich schien. »Er ist ein reizbarer Patient, habe ich Recht, Frau Doktor?«
Michelle werkelte gerade in einer Ecke des Raumes und hatte Theo den Rücken zugekehrt, aber er wusste, dass sie lächelte. Er hörte es an ihrer Stimme. »Er braucht ein bisschen Schlaf.«
»Ich brauche ein Telefon.«
Frances reinigte weiter die Wunde und ging dann eilig hinaus. Theo hoffte, dass sie ihm tatsächlich ein Telefon holte. Dann kam Michelle mit den Händen auf dem Rücken auf ihn zu. Er ärgerte sich, dass sie ihn wie ein Kind behandelte und die Spritze versteckte, damit er die Nadel nicht sah.
Aufgebracht sagte er: »Nun mach schon! Wir haben noch viel zu tun.«
Als sie ihm das Lidocain spritzte, zuckte er nicht einmal zusammen. »Die Stelle müsste in einer Minute taub werden. Würdest du dich bitte hinlegen?«
»Erleichtert es deine Arbeit, wenn ich liege?«
»Nein.«
»Dann geht es auch so. Los, fang schon an.«
Frances kam mit einem Klemmbrett und einigen Formularen zurück. Augenscheinlich hatte sie mitbekommen, dass Theo Michelle zur Eile antrieb.
»Junger Mann, Sie sollten die Ärztin nicht hetzen. Da können leicht Fehler passieren.«
Junger Mann? Er war um einiges älter als sie! »Wo ist das Telefon?«
»Entspann dich, Theo«, bat Michelle und bedeutete Frances, den Tisch mit den Instrumenten näher heranzuschieben. »Ich werde mich bestimmt nicht unnötig beeilen.« Dann lächelte sie und flüsterte: »Jemand hat mir mal gesagt, dass man, wenn man etwas richtig machen will …«
»Was?«
»… es langsam und umsichtig tun muss.«
Trotz seiner Verärgerung musste Theo grinsen. Er hätte Michelle am liebsten geküsst, fürchtete jedoch, dass die Schwester ihm auf der Stelle einen Schlag versetzen würde, wenn er es auch nur versuchte.
»Frances, sind Sie verheiratet?«
»Ja. Warum fragen Sie?«
»Mir kam gerade die Idee, dass Michelle Sie mit ihrem Bruder John Paul verkuppeln könnte. Sie beide haben viel gemeinsam.«
»Frau Doktor, wir haben keine Unterlagen von diesem Patienten«, sagte Frances knapp und ignorierte seine Bemerkung.
»Wo ist das Telefon?«, wollte Theo wissen.
»Er wird die Formulare ausfüllen, wenn ich fertig bin«, wandte sich Michelle an die Schwester.
»Das ist aber nicht die übliche Vorgehensweise.«
»Ich zähle bis fünf. Wenn ich dann immer noch kein Telefon in den Händen halte, stehe ich auf und …«, warnte Theo.
»Frances,
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