Gnade
bekam. Der Geruch, der Song und die Kälte kamen ihm seltsam vertraut vor. Richtig, es war wie bei seiner eigenen Operation.
Er spähte durch das quadratische Fenster und war überrascht, dass der Raum so klein war. Und er war voller Menschen. Theo zählte sechs Personen, einschließlich des Mannes, der am Kopfende des OP-Tisches saß und die Anzeigen auf dem Apparat neben ihm überprüfte. John Patrick konnte er nicht sehen, weil ihm eine Schwester die Sicht versperrte. Aber er erhaschte einen Blick auf Michelles Stirn, und zwar immer dann, wenn die Schwester ihr ein Instrument reichte und sie sich leicht in seine Richtung drehte. Während er sie beobachtete, wich allmählich die Spannung von ihm. Er wurde ruhiger, holte tief Luft und begriff mit einem Mal, dass er sich so gut fühlte, weil er in Michelles Nähe war.
»Mann, mich hat’s ganz schön erwischt!«, murmelte er. Er wandte sich um und ging den Flur entlang zurück zur Tür. Die Welt war bunter und tausendmal schöner, wenn er in ihrer Nähe war.
Seine Gedanken wanderten unwillkürlich zu Catherine. Sie war eine obsessive Persönlichkeit gewesen. Diese Feststellung brachte ihn wieder auf das Rätsel, das er zu lösen versuchte. Rosa hatte ihm erzählt, dass Catherine zu ihren Lebzeiten vorhatte, die Aufzeichnungen als Druckmittel gegen John einzusetzen. Sie wollte ihn damit zwingen, bei ihr zu bleiben und treu zu sein. Warum hatte Catherine ihren Anwalt nicht einfach angewiesen, die Papiere nach ihrem Tod der Polizei zu übergeben? Hatte sie Angst, dass Benchley die Sache nicht bis zu Ende bringen würde? Oder hatte Rosas Misstrauen gegenüber den Behörden auf sie abgefärbt?
Theo verstand nicht, warum sich Catherine ausgerechnet Michelle ausgesucht hatte. Catherine wusste, wie intelligent ihre Cousine war. Jedes Mal, wenn Jake sie angerufen hatte, gab er mit seiner Tochter an. Michelle hatte in ihrem Leben schon viel erreicht, und Catherine musste davon ausgegangen sein, dass ihre Cousine die Transaktionen durchschauen würde. Möglicherweise traute Catherine Jake nicht so viel Scharfsinn zu – viele ließen sich durch sein kumpelhaftes, schwatzhaftes Gehabe täuschen –, aber Theo wusste, dass er ziemlich schlau war. Catherine war sicherlich klar gewesen, wie beharrlich er sein konnte. Schließlich hatte er stets den Kontakt zu ihr aufrechterhalten. Er rief sie mit schöner Regelmäßigkeit einmal im Monat an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und ließ sich nicht von ihrer kühlen, gleichgültigen Art abschrecken. Möglicherweise hatte Catherine darauf spekuliert, dass Jake schon dafür sorgen würde, dass sich Michelle eingehend mit den Papieren befasste und sie an die richtigen Leute weiterleitete. Sie hatte sich nicht an die Polizei gewandt und Rosa eine zweite Kopie anvertraut. Warum?
Plötzlich kam Theo die Erleuchtung. Weil sie wusste, dass Rosa damit niemals zur Polizei gehen würde. Und das bedeutete …
»Verflucht noch mal!«, flüsterte Theo.
Er konnte es nicht fassen, wie lange er gebraucht hatte, sich alles zusammenzureimen. Entschuldige, Catherine, ich bin manchmal ein wenig begriffsstutzig.
Er konnte es kaum erwarten, Noah einzuweihen. Er schob die Tür auf, rannte durch den Flur und stieß in seiner Hast gegen einen Wagen mit Handtüchern. Der Wagen prallte gegen die Wand, und ein Stapel Handtücher fiel ihm direkt vor die Füße. Er hielt den Wagen fest, damit er nicht umkippte, und hockte sich hin, um die Handtücher aufzuheben. In dem Moment vernahm er das kurze Klingeln des Aufzugs und kurz darauf das Zischen der Türen.
Detective Harris betrat den Flur, und ohne Theo zu bemerken, ging sie in Richtung Warteraum. Heute trug sie keine Halbschuhe. Sie bewegte sich schnell, und ihre Absätze klapperten auf dem Linoleumboden wie Kastagnetten.
Theo lief ihr hinterher und rief: »Hey, Detective, suchen Sie mich?«
Harris hatte die Tür zum Warteraum beinahe erreicht. Erschrocken wirbelte sie herum und schob gleichzeitig ihre Hand in die Tasche. Dann lächelte sie. »Wo kommen Sie denn her?«
Während Harris auf Theo zukam, öffnete sich die Tür des Warteraums und Noah spähte auf den Flur hinaus.
»Aus dem OP«, erwiderte er. »Ich bin gleich bei Ihnen. Ich muss nur noch einen Anruf erledigen.« Er steuerte das Wandtelefon an, hob den Hörer ab und wählte die Nummer der Zentrale. Er sprach leise in den Hörer, dann legte er auf und lächelte Harris an.
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«
»Ich bin
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