Gnade
wann sie das letzte Mal zwei Wochen hintereinander freigehabt hatte.
Aber sie konnte nicht gehen, bevor sie diese Krankenberichte nicht diktiert hatte. Und die Post musste sie auch noch durchsehen. Erschöpft blickte sie auf ihre Uhr und stöhnte. Sie war seit Viertel nach vier auf den Beinen. Ein Milzriss, verursacht durch einen Motorradunfall, hatte sie eine Stunde früher als gewöhnlich aus dem Bett geholt. Jetzt war es fünf Uhr nachmittags. Michelle stützte die Ellbogen auf einen Stapel Krankenblätter, legte den Kopf in die Handflächen und schloss die Augen.
Dreißig Sekunden später schlief sie tief und fest. Sie hatte diese kurzen Nickerchen während ihrer Assistenzzeit zu schätzen gelernt, und sie hatte sich angewöhnt, überall und zu jeder Zeit zu schlafen, wenn es möglich war.
»Dr. Mike?«
Sie schreckte auf. »Ja?«
»Sie brauchen Koffein«, sagte die Schwester, die offensichtlich gerade an dem kleinen Zimmer vorbeigekommen war. »Soll ich Ihnen einen Kaffee holen? Sie sehen fix und fertig aus.«
Michelle gab sich keine Mühe, ihre Verärgerung zu verbergen. »Megan, Sie wecken mich, um mir zu sagen, dass ich müde aussehe?«
Die Schwester war jung und hübsch und kam frisch von der Schwesternschule. Sie arbeitete noch keine Woche im Krankenhaus, kannte aber schon die Namen aller Patienten und Mitarbeiter. Sie hatte gerade erfahren, dass sie ihr Examen mit Auszeichnung bestanden hatte, und deshalb konnte sie heute nichts aus der Ruhe bringen, nicht einmal eine Ärztin, die sie böse anfunkelte.
»Ich weiß nicht, wie Sie so schlafen können. Sie haben noch vor einer Minute telefoniert, und zack … im nächsten Moment sabbern Sie auf die Patientenkarten und schnarchen.«
Michelle schüttelte den Kopf. »Ich sabbere nicht, und schnarchen tu ich auch nicht.«
»Ich gehe jetzt hinunter in die Cafeteria«, kündigte Megan an. »Soll ich Ihnen etwas mitbringen?«
»Nein, danke. Ich bin sozusagen schon weg. Ich muss nur noch die Post durchsehen, dann bin ich fertig.«
Eine andere Krankenschwester kam hinzu. »Dr. Mike?«
»Ja?«
»Da ist ein Bote unten in der Notaufnahme«, sagte sie. »Er möchte etwas für Sie abgeben, aber Sie müssen den Empfang mit ihrer Unterschrift bestätigen. Sieht wichtig aus«, fügte sie hinzu. »Ich hoffe nicht, dass es eine Klage ist!«
»Dr. Mike ist noch nicht lange genug hier, um verklagt zu werden«, behauptete Megan.
»Der Bote hat gesagt, dass der Brief von einer Anwaltskanzlei aus New Orleans kommt, und er besteht darauf, ihn Ihnen persönlich zu übergeben und sich von Ihnen eine Quittung unterschreiben zu lassen. Was soll ich ihm sagen?«
»Ich komme runter.«
Michelle griff nach den bereits bearbeiteten Patientenkarten und dem Diktierband und legte alles in das dafür vorgesehene Kästchen, dann ging sie zur Notaufnahme. Der Bote war nirgendwo zu sehen. Die Verwaltungssekretärin eilte mit einem großen wattierten Umschlag auf sie zu. »Das ist für Sie, Frau Doktor. Ich wusste, dass Sie sehr beschäftigt sind, und habe dem Boten gesagt, ich hätte die Vollmacht, in Ihrem Namen Lieferungen zu quittieren.«
»Danke, Elena.«
Michelle wollte wieder hinaufgehen, aber Elena hielt sie auf. »Danken Sie mir nicht zu früh, Frau Doktor, ich habe nämlich noch eine Nachricht für Sie, leider eine schlechte. Es hat einen schlimmen Unfall auf der Sunset gegeben, und die Sanitäter bringen mehrere verletzte Kinder hierher. Sie sind vor zwei Minuten losgefahren. Wir werden Ihre Hilfe brauchen.«
»In Ordnung, Elena. Dann muss mein Urlaub wohl noch ein wenig warten.«
Michelle nahm den Umschlag mit, holte sich eine Cola light und ging dann ins Schwesternzimmer. Sie brauchte nun wirklich etwas Koffein, um für die kommenden Notfälle fit zu sein. Sie stellte die Dose ab und streckte gerade die Hand nach dem Umschlag aus, als die Tür aufflog und ein Sanitäter sie in den OP rief.
»Wir haben einen Bluter dabei!«
Michelle stürmte los – und der Umschlag war in dem Moment vollkommen vergessen.
10
Niemand ist eine Insel, und Leon Bruno Jones bildete da keine Ausnahme. »Der Graf« wurde er von seinen Kollegen genannt, weil seine Eckzähne deutlich länger waren als die Schneidezähne und er wie ein Vampir aussah, wenn er lächelte. Leon schien dazu in der Lage, das Blut aus seinen Opfern herauszusaugen, und wenn die Erpressungssummen in seiner doppelten Buchführung stimmten, dann hatte er ihnen mehr als nur Blut abgezapft.
Leon hatte einen großen
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