Gnade
Freundeskreis, und alle, die dazugehörten, hassten Theo Buchanan. Ohne Theos Ermittlungen hätte Leon nicht als Kronzeuge auftreten und vor der Großen Strafkammer in Boston gegen eins der mächtigsten Verbrechersyndikate des Landes aussagen müssen.
Theo war ein paar Tage nach seiner Operation nach Boston zurückgekehrt. Obschon Leons Fall für ihn abgeschlossen war und ein halbes Dutzend Mafiabosse nun hinter Schloss und Riegel saßen, hatte Theo noch eine Unmenge an Berichten zu schreiben und anderen Papierkram zu erledigen. In den folgenden zwei Wochen verbrachte er viele Stunden in seinem Büro. Dabei hatten ihm seine Vorgesetzten im Justizministerium dringend geraten, kürzer zu treten. Doch Theo hatte schon früher Morddrohungen erhalten, und obwohl er sie keineswegs auf die leichte Schulter nahm, ließ er nicht zu, dass seine Arbeit dadurch beeinträchtigt wurde.
Als schließlich die letzte Akte abgelegt war und seine Mitarbeiter jeweils ihren Abschlussbericht eingereicht hatten, schloss Theo die Bürotür hinter sich und fuhr nach Hause. Er war mental und körperlich erschöpft. Der berufliche Stress hatte ihm arg zugesetzt, und er fragte sich, ob seine Anstrengungen letzten Endes überhaupt etwas bewirkten. Aber er war viel zu müde, um eingehend darüber nachzudenken. Er musste erst einmal eine Nacht durchschlafen. Vielleicht sah er dann klarer und konnte entscheiden, wie es weitergehen sollte. Entweder würde er eine neue Studie über strafbare Delikte erstellen, wie es ihm das Justizministerium angeboten hatte, oder eine private Anwaltstätigkeit aufnehmen und seine Tage mit Besprechungen und Verhandlungen verbringen. Doch wie auch immer, er würde garantiert sofort wieder in die jeweilige Tretmühle geraten. Hatte seine Familie Recht? Versuchte er, seinem Leben zu entfliehen, indem er nonstop arbeitete?
Seine Vorgesetzten hatten ihn dazu gedrängt, sich für eine Weile unsichtbar zu machen, zumindest bis sich Leons Familie etwas beruhigt hatte. Sich eine Zeit lang weitab von allem zu entspannen war für Theo eine durchaus reizvolle Vorstellung. Visionen von einer Angelrute, die das stille Wasser des Bayous in Louisiana kräuselte, standen ihm plötzlich vor Augen. Bevor er aus New Orleans abgereist war, hatte er den Organisatoren der Veranstaltung versprochen, wiederzukommen und die ausgefallene Rede zu halten. Der Zeitpunkt war außerordentlich günstig. Nach der Rede konnte er einen Kurztrip machen und sich die Fischgewässer anschauen, die Jake Renard so angepriesen hatte. Ein bisschen Erholung war genau das, was er jetzt brauchte! Aber es gab noch etwas, das ihn zur Rückkehr nach Louisiana antrieb – und das hatte nichts mit Angeln zu tun.
Dreieinhalb Wochen nach der Operation befand sich Theo wieder in New Orleans, stand in dem Festsaal auf dem Podium und wartete darauf, dass der Begrüßungsapplaus der Gesetzeshüter abebbte, damit er seine überfällige Rede halten konnte. Und plötzlich tauchte sie in seinen Gedanken auf und brachte alles durcheinander. Sie hatte wirklich das wundervollste Lächeln der Welt – es ließ die Welt in ihren schönsten Farben erstrahlen. Und ihre Figur war einfach atemberaubend, daran bestand kein Zweifel. Als er im Krankenhausbett lag, hatte er den Blick nicht von ihr wenden können. Jeder andere Mann hätte wahrscheinlich ebenso reagiert wie er. Er war damals zwar krank gewesen, aber keineswegs blind oder gefühllos.
Theo versuchte sich die Unterhaltung ins Gedächtnis zu rufen, die er mit Michelle geführt hatte. Da wurde ihm plötzlich bewusst, dass der Beifall verstummt war. Alle sahen erwartungsvoll zu ihm auf, und zum ersten Mal in seinem Leben war er wirklich nervös. Ihm fiel kein einziges Wort von seiner sorgfältig vorbereiteten Ansprache ein – er wusste nicht einmal mehr das Thema, über das er reden wollte. Er richtete den Blick nach unten auf das Pult, wo er das Programm abgelegt hatte, las den Titel und eine kurze Einführung zu seinem Vortrag und begann zu improvisieren. Gerade weil er sich äußerst kurz fasste, waren die Zuhörer hingerissen. Sie alle waren überarbeitet und beruflich stark beansprucht und freuten sich auf den feierlichen Teil dieses Abends, vor allem auf das gute Essen. Je früher der offizielle Teil vorüber war, desto besser. Theos Rede, die ursprünglich eine halbe Stunde dauern sollte, endete schon nach zehn Minuten. Der Applaus war derart enthusiastisch, dass Theo lachen musste.
Später, als er zum Hotel ging,
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