Gnade
später fuhr Theo immer noch die endlos erscheinende Kiesstraße entlang. Auf beiden Seiten wuchsen dichte Büsche und Zypressen, von deren Ästen graugrünes Moos herabhing. Es war heiß und schrecklich schwül, aber die Landschaft war so schön und friedlich, dass Theo das Fenster weit herunterkurbelte, um den süßen, erdigen Geruch einzuatmen.
Während er im Schneckentempo weiterfuhr, erblickte er hinter den Bäumen ein trübes Gewässer. Diese Gegend sollte man zu Fuß erkunden, dachte er bei sich. Und dieser Gedanke führte zu einem anderen. Lebten nicht Alligatoren in den Sümpfen? Also doch lieber keine Wanderungen!
Was machte er eigentlich hier? Warum hatte er den ganzen Weg zurückgelegt? Doch nicht nur um zu angeln? Nein, weil sie hier ist, gestand er sich ein, und plötzlich kam er sich vor wie ein Narr. Er überlegte, ob er einfach wenden und zurück nach New Orleans fahren sollte. Das wäre bestimmt das Richtige. Wenn er sich beeilte, konnte er das letzte Flugzeug noch erwischen und um Mitternacht in Boston sein. Dort gehörte er hin, und wenn er angeln wollte, konnte er mit seinem Boot aufs Meer fahren. Er war verrückt, komplett verrückt. Er wusste, was zu tun war, und trotzdem fuhr er weiter.
Die Straße beschrieb erneut eine Kurve, und plötzlich sah er ihn: den Schwan. In derselben Sekunde brach er in Gelächter aus. So etwas hatte er noch nie zu Gesicht bekommen! Das Haus hatte graue, zerfurchte Mauern und ein schräges Blechdach. Es glich eher einer großen heruntergekommenen Scheune. Das Besondere war der riesige Schwan auf dem Giebel des Daches. Aber wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass das gar kein Schwan war – es handelte sich um einen grell rosafarbenen Flamingo, und ein Flügel hing nur noch an einem dünnen Metalldraht.
Ein alter, verbeulter Ford parkte auf dem Kiesplatz vor dem Haus. Theo stellte sein Auto daneben, stieg aus und entledigte sich seines Jacketts. Er krempelte die hellblauen Hemdsärmel hoch und steuerte auf den Eingang zu. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er das Jackett angezogen hatte, um den Revolver und das Holster zu verbergen, das an seinem Gürtel befestigt war. Aber es war einfach zu schwül, um mit Jacke herumzulaufen, deshalb beschloss er, keine weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dass seine Waffe nun zu sehen war. Michelle wusste ohnehin, dass er stets eine bei sich trug. Außerdem war er gerade vollauf damit beschäftigt, sich einen Grund für sein Kommen auszudenken. Er überlegte, ob Jake wohl begeistert wäre, wenn er die Wahrheit erfuhr: Ich bin verrückt nach Ihrer Tochter! O ja, die Wahrheit würde ihm zweifellos einen Schlag auf die Nase einbringen.
Die Tür stand halb offen. Theo stieß sie auf und ging hinein. Er entdeckte Jake Renard hinter der Bar. Jake hielt ein Küchentuch in der Hand und wischte gerade die lackierte Holztheke ab. Theo nahm die Sonnenbrille ab, steckte sie in die Hemdtasche neben seine Lesebrille und nickte Jake freundlich zu. Er hoffte, dass sich Jake sofort an ihn erinnerte. Falls nicht, musste er eine plausible Begründung für seine Anwesenheit parat haben. Angeln, ja, das war’s. Er wollte hier angeln gehen.
Aber Jake erinnerte sich an ihn. In dem Moment, als er Theo sah, stieß er einen Jauchzer aus. Dann grinste er übers ganze Gesicht, warf das Küchentuch auf den Tresen, wischte sich die Hände an seinem Overall ab und eilte auf seinen Besucher zu.
»Ich werd verrückt!«, rief er.
»Wie geht’s Ihnen, Jake?«
»Prima, Theo. Mir geht’s bestens. Sind Sie zum Angeln hier?«
»Ja, Sir.«
Jake schüttelte Theo herzlich die Hand. »Ich freue mich, Sie zu sehen! Ich habe Ellie erst neulich Abend erzählt, dass wir uns bestimmt eines Tages wieder begegnen werden, und jetzt sind Sie auf einmal da.«
Theo wusste, wer Ellie war. Jake hatte seine Frau damals im Krankenhaus erwähnt.
»Wie geht es Ihrer Frau?«, erkundigte er sich höflich.
Jake sah ihn einen Moment lang erschrocken an, erholte sich aber schnell und sagte: »Meine Frau ist schon vor einer ganzen Weile von uns gegangen. Gott gebe ihrer Seele Frieden!«
»Tut mir Leid, das zu hören«, sagte Theo verwirrt. »Darf ich dann fragen, wer Ellie ist?«
»Meine Frau.«
»Oh, dann haben Sie wieder geheiratet?«
»Nein, nachdem meine Ellie gestorben war, habe ich nie mehr den Drang verspürt zu heiraten. Mir war klar, dass ich niemals wieder eine Frau finden würde, die sich mit ihr messen kann.« Er lächelte. »Ich wusste einfach, dass
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