Gnadenfrist
Leichtsinn wird dich eines Tages umbringen.
Wird dich umbringen.
Sie hatte versprochen, den anderen Reifen sofort abzuholen. Am Bahnhof angekommen, hatte er aussteigen wollen, ohne sie zum Abschied zu küssen. Aber sie hatte sich zu ihm herübergebeugt, seine Wange mit einem Kuß gestreift und mit jenem vertrauten leisen Lachen in der Stimme gesagt: »Mach’s gut, mein Griesgram. Ich liebe dich.«
Er hatte weder geantwortet noch zurückgeblickt, sondern war schnurstracks zu seinem Zug gegangen. Dann hatte er überlegt, ob er sie vom Büro aus anrufen sollte, sich aber gesagt, daß sie ruhig annehmen sollte, er sei böse auf sie. Denn er machte sich tatsächlich Sorgen um sie.
Sie war nachlässig in Dingen, die wichtig waren. Schon mehrmals, wenn er bis spät in den Abend gearbeitet hatte, war er nach Hause gekommen und die Tür war nicht abgeschlossen, während Nina und Neil tief und fest schliefen.
Er hatte nicht angerufen, hatte sich nicht mit ihr versöhnt. Und als er an jenem Abend aus dem Halbsechsuhr Zug stieg, erwartete ihn Roger Perry am Bahnhof, um mit ihm nach Hause zu fahren und ihm zu sagen, daß Nina tot sei.
Dann folgten fast zwei Jahre trostloser Leere bis zu jenem Morgen, als er vor der Today Show einer Gesprächsteilnehmerin vorgestellt wurde: Sharon Martin.
Die Windschutzscheibe war sauber genug. Steve stieg in den Wagen, drehte den Zündschlüssel und drückte aufs Gaspedal, kaum daß der Motor angesprungen war. Er wollte nach Hause und sich überzeugen, daß mit Neil alles in Ordnung war. Er wollte Neil wieder glücklich machen. Er wollte seinen Arm um Sharon legen und sie festhalten. Heute abend wollte er sie im Gästezimmer umhergehen hören, wollte sie in seiner Nähe wissen. Sie mußten miteinander ins reine kommen. Nichts Trennendes durfte sich jetzt noch zwischen sie schieben.
Statt der üblichen fünf Minuten benötigte er heute fünfzehn bis zu seinem Haus. Die Straßen waren eine einzige Rutschbahn. Als er vor einem Halteschild bremste, schlitterte der Wagen mitten auf die Kreuzung. Zum Glück kam kein anderes Fahrzeug.
Endlich erreichte der die Driftwood Lane. Sie erschien ihm ungewöhnlich dunkel. Es war sein Haus - die Lichter waren aus! Panische Angst erfaßte ihn. Ohne auf die glatte Straße zu achten, trat er aufs Gas; schleudernd schoß der Wagen die Straße entlang. Er bog in seine Auffahrt ein und bremste scharf hinter Sharons Wagen. Er hastete die Stufen hinauf, schob den Schlüssel ins Schloß und stieß die Tür auf. »Sharon… Neil!« rief er. »Sharon… Neil!«
Eisiges Schweigen. Trotz der angenehmen Wärme in der Halle wurden ihm die Hände klamm. »Sharon… Neil!« rief er wieder.
Er schaute ins Wohnzimmer. Zeitungen lagen verstreut auf dem Boden, Schere und Papierschnitzel auf einer aufgeschlagenen Seite. Neil mußte Bilder ausgeschnitten haben. Auf dem kleinen Sofatisch neben dem Kamin standen ein unberührter Becher Kakao und ein Glas Sherry. Steve lief ins Zimmer und befühlte den Becher. Der Kakao war kalt. Er rannte in die Küche, sah den Topf im Spülbecken, lief durch den Flur ins Studio. Seine Angst wurde immer größer, fast überwältigend. Auch das Studio war leer. Im Kamin flackerte ein Feuer. Er hatte Bill gebeten, hier Feuer zu machen, bevor er ging.
Ohne recht zu wissen, wonach er eigentlich suchte, rannte er durch den Flur zurück in die Halle und bemerkte Sharons Handkoffer und ihr Portemonnaie. Er öffnete den Garderobenschrank. Da hing Sharons Cape. Wieso war sie ohne Cape weggegangen? Neil!
Neil mußte einen schweren Anfall gehabt haben, einen von denen, die so plötzlich kamen und ihn fast erstickten.
Steve rannte zum Telefon in der Küche. Hier waren die Notrufnummern - Krankenhaus, Polizei, Feuer, Hausarzt - deutlich sichtbar angeschrieben. Er rief zuerst in der Arztpraxis an.
Die Sprechstundenhilfe war noch da. »Nein, Mr. Peterson, man hat uns nicht wegen Neil angerufen. Ist etwas…« Er hängte ohne eine Erklärung auf. Dann rief er die Notaufnahme des Krankenhauses an. »Wir haben keinen Eintrag…«
Wo waren sie? Was war mit ihnen geschehen? Er atmete schwer. Ein Blick auf die Wanduhr sagte ihm, daß fast zwei Stunden seit seinem Anruf aus New York vergangen waren. So lange waren sie also mindestens schon fort. Die Perrys! Vielleicht waren sie bei den Perrys drüben. Sharon war vielleicht mit Neil hinübergelaufen, als er den Anfall bekam…
Steve griff wieder nach dem Telefon. Laß sie bei den Perrys sein. Gib, daß alles
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