Gnadenfrist
nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Diesmal band er ihr die Beine von den Knien bis zu den Knöchen zusammen, dann zog er sie hoch, so daß sie auf dem Bett sitzen konnte. »Die Hände werde ich dir erst fesseln, wenn ich gehe, Sharon.« Es war ein Zugeständnis. Ihren Namen ließ er förmlich auf der Zunge zergehen.
Wenn er geht? Wollte er sie hier allein lassen? Er beugte sich über Neil und zerschnitt die Schnur an dessen Handgelenken. Neil zog die Hände auseinander und fuchtelte wild durch die Luft. Er keuchte erregt. Seine heiseren Atemstöße kamen in immer kürzeren Abständen.
Sharon zog ihn auf ihren Schoß. Sie deckte ihn mit dem Mantel zu, den sie noch immer trug. Der zitternde kleine Körper wehrte sich und versuchte, sich von ihr frei zu machen.
»Neil, laß das! Beruhige dich«, sagte sie mit fester Stimme. »Erinnere dich, was dir dein Vater gesagt hat. Wenn du meinst, daß du einen Asthmaanfall bekommst, sollst du dich ganz still verhalten und ganz langsam atmen.« Sie wandte sich an den Mann. »Bitte, würden Sie ihm einen Schluck Wasser holen?«
In der ungleichmäßigen, schummrigen Beleuchtung schien sein Schatten durch die abblätternde Farbe an der Wand wie aus einzelnen Stücken zu bestehen. Er nickte und ging zu dem rostigen Ausguß. Stotternd und gurgelnd kam das Wasser aus dem Hahn. Während ihr der Mann den Rücken zukehrte, warf Sharon einen Blick auf die Fotos. Zwei von den Frauen waren tot oder lagen im Sterben; die dritte versuchte, vor etwas oder vor jemand zu fliehen.
Was hatte er mit ihnen gemacht? Was für eine Art Verrückter war er? Warum hatte er sie und Neil entführt? Es war sehr gewagt, mit ihnen durch den Bahnhof zu gehen. Dieser Mann hatte sorgfältig vorausgeplant. Aber warum? Neils Atem stockte. Er würgte und begann qualvoll zu husten. Mit einem Pappbecher in der Hand kam der Entführer vom Ausguß zurück. Das Würgen schien ihm auf die Nerven zu gehen. Als er Sharon den Becher reichte, zitterte seine Hand. »Sieh zu, daß er damit aufhört«, sagte er.
Sharon hielt Neil den Becher an die Lippen. »Komm, trink das.« Neil trank in gierigen Zügen. »Nein, langsam, Neil… Nun lehn dich zurück.« Der Junge trank den Becher leer und seufzte. Sie spürte, daß er sich etwas entspannte. »So ist’s recht.« Der Entführer beugte sich über sie. »Du bist ein sehr liebes Mädchen, Sharon«, sagte er. »Deshalb habe ich mich auch in dich verliebt. Weil du keine Angst vor mir hast, oder doch?« »Nein, natürlich nicht. Ich weiß, daß Sie uns nichts Böses tun werden.« Sie schlug einen unbeschwerten Plauderton an. »Aber warum haben Sie uns hierhergebracht?« Ohne zu antworten, trat er an den schwarzen Koffer, hob ihn vorsichtig hoch und legte ihn wenige Schritte von der Tür entfernt auf den Boden. Er hockte sich davor und öffnete ihn. »Was haben Sie in dem Koffer?« fragte Sharon.
»Nur etwas, was ich noch zusammenbasteln muß, bevor ich gehe.«
»Wo gehen Sie hin?« »Stell nicht so viele Fragen, Sharon.«
»Ich interessiere mich nur für Ihre Pläne.« Sie beobachtete seine Finger, die sich mit dem Kofferinhalt beschäftigten. Sie wirkten wie selbständige Wesen, die geschickt mit Drähten und Pulver umzugehen verstanden. »Bei dieser Arbeit kann ich nicht reden. Mit Nitroglyzerin muß man vorsichtig sein, sogar ich.« Sharon drückte Neil fester an sich. Dieser Wahnsinnige hantierte nur wenige Meter von ihnen entfernt mit Sprengstoff. Wenn er einen Fehler machte, wenn er etwas umstieß… Sie erinnerte sich, wie das Sandsteingebäude in Greenwich Village in die Luft geflogen war. Sie hatte an jenem Tag schulfrei gehabt und war in New York einkaufen gewesen, nur wenige Straßen von dem Unglücksort entfernt, als die ohrenbetäubende Explosion erfolgte. Sie dachte an die Unmenge von Schutt, Mauerbrocken und zersplittertem Holz. Diese Leute dachten auch, sie wüßten mit Sprengstoff umzugehen.Inständig hoffend, es möge ihm kein Fehler unterlaufen, beobachtete sie, wie er gewissenhaft und behutsam arbeitete. Ihr schliefen die Beine ein, Feuchtigkeit sammelte sich auf ihrer Haut, ihre Ohren gewöhnten sich an das dumpfe Rattern der Züge. Neils pfeifender Atem entwickelte einen gewissen Rhythmus; er atmete schnell, keuchend, aber nicht mehr ganz so krampfhaft.
Endlich richtete sich der Mann auf. »Alles bestens.« Es klang zufrieden. »Was wollen Sie damit machen?« »Das ist dein Babysitter.«
»Was soll das heißen?« »Ich muß euch bis morgen hier
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