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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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Ewigkeit.
    Zwanzig Stunden. Wo waren Sharon und Neil? Hatten sie zu essen bekommen? Draußen war es kalt. Waren sie an einem warmen Ort untergebracht? Sharon würde sich, sofern es ihr möglich war, um Neil kümmern. Das wußte er. Angenommen, Sharon wäre gestern abend ans Telefon gekommen; angenommen, sie hätten den Abend wie geplant zu dritt verbringen können… Sobald Neil zu Bett gegangen war, hätte er ihr gesagt: »Du wirst nicht viel vorfinden, Sharon. Vermutlich wärst du besser dran, wenn du warten würdest. Aber warte nicht. Heirate mich. Wir gehören zusammen.«

    Wahrscheinlich hätte sie ihm einen Korb gegeben. Sie verachtete seine Einstellung zur Todesstrafe. Nun, er hatte sich stur und unbarmherzig genug gezeigt. Wie war er doch überzeugt gewesen von der Richtigkeit seines Standpunkts!
    Machte Ronald Thompsons Mutter in dieser Minute das gleiche durch? Auch wenn es für ihren Jungen vorbei war,würde sie doch für den Rest ihres Lebens an diesem Leid zu tragen haben.
    Genau wie er, wenn Sharon und Neil etwas zustieße. Das Tempo des Bahnhofs wurde rascher. Die leitenden Angestellten, die die Stadt früher verließen, um der Hektik des Pendlerverkehrs zu entgehen, eilten zu den Zügen in Richtung New Haven, die sie nach Westchester und Connecticut brachten. Frauen, die einen Einkaufstag hinter sich hatten, durchquerten den Bahnhof und studierten besorgt die Fahrpläne, denn sie mußten rechtzeitig zu Hause sein, um das Abendessen vorzubereiten.
    Steve ging treppab in den unteren Bahnhofsteil und betrat die Oyster Bar. Sie war fast leer.
    Der mittägliche Ansturm war längst vorbei, und für die Coktail- und Dinnergäste war es noch zu früh. Er setzte sich an die Bar und bestellte. Den Koffer schob er unter seinen rechten Fuß.
    Vergangenen Monat hatte er sich hier mit Sharon zum Mittagessen getroffen. Sie strahlte vor Freude über das überwältigende Echo, auf das sie bei ihrer Kampagne für die Abänderung des Todesurteils in lebenslange Freiheitsstrafe für Ronald Thompson gestoßen war. »Wir werden es schaffen, Steve«, meinte sie zuversichtlich. Sie war so glücklich. Es bedeutete ihr viel. Dann hatten sie über ihre bevorstehende Reise gesprochen, die ihr noch mehr Unterstützung einbringen sollte. »Du wirst mir fehlen«, hatte er gesagt.
    »Du mir auch.«
    Ich liebe dich, Sharon. Ich liebe dich, Sharon. Ich liebe dich. Hatte er ihr das damals auch gesagt?
    Er trank den Martini, den der Barmann vor ihn hinstellte, in einem Zug. Das dampfende Muschelragout ließ er unberührt stehen. Kurz vor vier Uhr bezahlte er seine Rechnung und begab sich in den oberen Bahnhof zum Zug nach Carley.
    Auf dem Weg zum Raucherabteil fiel ihm nicht auf, daß im hinteren Teil des Wagens, in den er eingestiegen war, ein Mann saß, der sein Gesicht hinter einer Zeitung verbarg. Erst nachdem Steve vorbeigegangen war, senkte sich die Zeitung um ein paar Millimeter, und ein Paar unstete Augen folgten ihm, als er sich mit dem schweren Koffer durch den Wagen schob.
    Derselbe Fahrgast stieg in Carley aus und wartete auf dem Bahnsteig, bis Steve den Parkplatz in seinem Wagen verlassen hatte, der jetzt, verborgen in den Scheinwerfern und hinter dem Rückspiegel, mit starken Kameras ausgestattet war.
27
    Glenda Perry schlief bis um ein Uhr. Sie erwachte von dem Geräusch eines abfahrenden Wagens. Bevor sie die Augen aufschlug, lag sie ganz still und wartete. Doch der Schmerz, der sich häufig beim Erwachen einstellte, blieb aus. Sie hatte eine schlimme Nacht hinter sich, viel schlimmer, als sie Roger gegenüber zugegeben hatte. Aber wahrscheinlich ahnte er, wie es um sie stand. Auch der Arzt machte sich Sorgen wegen des Kardiogramms.
    Ins Krankenhaus ging sie jedenfalls nicht. Man würde sie dort derart mit Beruhigungsmitteln vollpumpen, daß sie absolut nutzlos wäre. Sie wußte ja, warum die Schmerzen in letzter Zeit so häufig auftraten. Wegen Ronald Thompson. Er war so jung, und ihre Aussage hatte zu seiner Verurteilung beigetragen.
    »Er rannte Sie um, Mrs. Perry… « »Ja, er kam aus dem Haus gelaufen.«
    »Es war dunkel, Mrs. Perry. Sind Sie sicher, daß es kein anderer war, der da fortlief?«
    »Ganz sicher. Er zögerte auf der Schwelle, bevor er mit mir zusammenstieß. In der Küche brannte Licht…« Und jetzt Neil und Sharon. O Gott, ich muß mich erinnern. Sie biß sich auf die Lippe - ein zuckender Schmerz - nein, nicht aufregen. Das würde nichts nützen. Denken mußte sie, denken. Sie schob eine

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