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Gnadenfrist

Titel: Gnadenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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guten Grund für sein Verschwinden. Alle rechneten damit, daß er fortging.
    »Irgendwelche unerwarteten Abreisen in dieser Gegend?« könnte die Polizei fragen.
    »Er? Nein, er hat sich beklagt, daß man ihm gekündigt hat. Er hat den alten Mann gebeten, den Mietvertrag zu verlängern…«
    Allerdings war das vor den letzten beiden Mädchen gewesen. >CB-Mörder< nannten ihn die Zeitungen jetzt. Wenn die wüßten… Er war sogar zur Beerdigung der Callahan gegangen. Der Gottesdienst!
    Plötzlich wußte er, wo er die Kassette hinterlegen würde, wo sie noch heute abend gefunden und abgegeben werden konnte.
    Zufrieden betrat er die Nedicks-Cafeteria und bestellte Kaffee, Milch und Brötchen. Er würde eine Weile bei ihnen bleiben, so daß sie jetzt etwas essen konnten und später, bevor er ging, noch einmal. Er wollte nicht, daß Sharon ihn für rücksichtslos hielt.
    Als er den Bereich des Mount Vernon Bahnsteiges verließ, hatte er das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden. In dieser Hinsicht funktionierte sein Instinkt hervorragend. Er blieb stehen und lauschte. Er glaubte, etwas gehört zu haben, und ging auf Zehenspitzen zurück.
    Aber es war nur eine von diesen Alten mit ihren ewigen Plastiktüten, die sich die Rampe zum Bahnhof hinaufschleppte. Wahrscheinlich hatte sie auf dem Bahnsteig geschlafen.

    Mit äußerster Sorgfalt entfernte er das Stückchen Draht, das er an der Tür befestigt hatte, zog den Schlüssel hervor und steckte ihn behutsam ins Schloß. Langsam, Millimeter um Millimeter, um ja den Draht nicht zu spannen, öffnete er die Tür, schob sich in den Raum und machte die Tür hinter sich zu.
    Er schaltete das flimmernde Licht ein und knurrte zufrieden. Sharon und der Junge lagen noch genauso da, wie er sie verlassen hatte. Der Junge konnte ihn wegen der Augenbinde natürlich nicht sehen, aber Sharon, die hinter ihm lag, hob den Kopf. Er stellte sein Päckchen ab, eilte zu ihr und riß ihr den Knebel von ihrem Mund.
    »Er war nicht sehr fest diesmal«, sagte er, als er in ihren Augen eine Spur von einem Vorwurf zu entdecken glaubte.
    »Nein.« Sie war sehr nervös, anders als vorher. Ihre Augen verrieten, daß sie sich fürchtete.
    Er wollte nicht, daß sie sich vor ihm fürchtete.
    »Hast du Angst, Sharon?« Seine Stimme klang entsetzlich sanft.
    »Oh… nein… durchaus nicht.«
    »Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.«
    »Oh, vielen Dank. Aber würden Sie Neil bitte den Knebel abnehmen? Und bitte, binden Sie uns los, wenigstens die Hände - wie vorhin.«
    Er kniff die Augen zusammen. Etwas war anders an ihr. »Sicher, Sharon.« Er rieb seine Nase an ihrem Gesicht. Mit seinen ungewöhnlich kräftigen Fingern löste er die Knoten ihrer Fesseln. Innerhalb einer Minute waren ihre Hände frei, und er griff nach dem Jungen.
    Das Kind wich vor ihm zurück und preßte sich an Sharon. »Es ist gut, Neil«, sagte sie,
    »denk daran, worüber wir gesprochen haben.«
    »Worüber habt ihr gesprochen, Sharon?«
    »Nur, daß Neils Vater Ihnen das Geld geben wird, das Sie verlangen, und daß Sie seinem Vater morgen sagen werden, wo er zu finden ist. Ich sagte ihm auch, daß ich mit Ihnen fortgehe und daß sein Vater bald danach hier sein wird. War das nicht richtig?«
    Mit seinen glitzernden Augen sah er sie forschend an: »Bist du sicher, daß du mitkommen willst, Sharon?« »O ja, vollkommen. Sie… Sie gefallen mir, Foxy.« »Ich habe Brötchen, Kaffee und etwas Milch für den Jungen mitgebracht.«
    »Das ist sehr nett von Ihnen.« Er beobachtete, wie sie ihre Finger bog und streckte und anschließend Neils Handgelenke massierte und ihm das Haar aus der Stirn strich. Wie sie dem Jungen die Hände drückte! War das ein Signal? Hatten sie einen Geheimpakt geschlossen?
    Er zog die Apfelsinenkiste an das Feldbett heran und legte das Frühstückspaket darauf.
    Dann reichte er Sharon einen Pappbehälter mit Kaffee.
    »Danke.« Sie stellte den Kaffee ab, ohne davon zu trinken. »Wo ist Neils Milch?«
    Er gab sie ihr und sah zu, wie sie Neil die Milchtüte in die Hand drückte. »Hier, halt fest, Neil. Trink langsam.« Der röchelnde Atem des Jungen war irritierend und weckte störende Erinnerungen.
    Er nahm die Brötchen aus der Tüte. Er hatte sie dick mit Butter bestreichen lassen, so wie er sie auch gerne aß. Sharon brach ein Stück von einem Brötchen ab und reichte es dem Jungen.
    »Hier, Neil, ein Brötchen.« Ihre Stimme klang besänftigend, als hätte sie sich mit dem Jungen gegen ihn verschworen.

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