Gnadenfrist
seufzte. »Du solltest zu Hause beim Essen sitzen.«
»Ich hab Angst, heimzugehen.«
Er wirkte nicht allzu verängstigt, aber so was zu sagen, war nicht seine Art. »Dann komm mit rauf.«
»Tertulla ist nicht weggelaufen. Sie hat zu viel Angst vor Oma. Oma hatte mir aufgetragen, sie zur Schule zu bringen. Das war mehr als lästig. Und dann sollte ich mit ihr zum Mittagessen zu ihrer Mutter gehen …«
»Und ist sie heute morgen zur Schule gegangen?«
»Nein, natürlich nicht!« knurrte Marius ungeduldig, während er hinter mir um die dritte Treppenbiegung hastete. »Kaum, daß wir da waren, ist sie abgehauen, aber sie hatte versprochen, nach dem Unterricht vor der Schule auf uns zu warten.«
»Und was ist passiert?«
»Sie ist nicht gekommen. Ich glaube, ihr ist was passiert. Ich brauch dich, Onkel Marcus. Wir müssen nach ihr suchen.«
»Tertulla ist ein kleines Biest und hat einfach die Zeit vergessen. Sie taucht schon wieder auf.«
Marius schüttelte den Kopf. Er hatte die gleichen Locken wie Papa und ich, schaffte es allerdings, stets ordentlich auszusehen. Ich sollte mir bei Gelegenheit dazu mal Tips von ihm geben lassen. »Schau mal, Onkel, mir ist dieses Problem wichtig, weil ich zu hören bekommen werde, daß ich sie verloren hatte. Wenn du einverstanden bist, sie zu suchen, werde ich dir helfen.«
»Ich bin nicht einverstanden!« erklärte ich munter. Wir hatten die Wohnung erreicht; ich ließ ihn hinein. »Aber ich bin auch nicht damit einverstanden, daß ein zukünftiger Rhetoriklehrer zum Sündenbock für eine von Gallas Brut gemacht wird. So, hier ist Helena …«
»Oh, gut!« rief Marius und versuchte gar nicht erst, seine Erleichterung zu verbergen. »Endlich jemand, der weiß, was wir tun sollen!«
Helena kam vom Balkon herein. Sie hatte das Müllbaby auf dem Arm. Ich grinste anerkennend, aber mein Neffe riskierte seinen Hals. Maia schien zu Hause von unserem bevorstehenden Familienzuwachs erzählt zu haben, denn sobald Marius das Baby sah, kreischte er: »Meine Güte, Helena! Hat Onkel Marcus dir schon mal eins zum Üben gebracht?«
Sie fand das nicht komisch.
XXXIII
Ich wartete nicht auf Petros versprochenen Mann für den Besuch bei Balbinus’ Verwandten. Meine häuslichen Sorgen waren so drückend, daß es angebracht schien, sofort nach dem Mittagessen wieder zu verschwinden. Ich nahm allerdings einen Zeugen mit.
»Du fehlst mir, Marcus«, hatte Helena sich beschwert.
Das war ein Aspekt unseres Zusammenlebens, der mich immer bedrückt hatte. Da sie aus einer Gesellschaftsschicht stammte, in der die Frauen ihre Tage inmitten von Sklavenheeren und Besucherscharen verbrachten, mußte Helena sich unweigerlich einsam fühlen. Senatorentöchtern war keine andere ehrbare Beschäftigung erlaubt, als gemeinsam Pfefferminztee zu trinken, und obwohl viele es vorzogen, das Ehrbare zu vergessen, und sich Gladiatoren an den Hals warfen, war Helena nicht der Typ dafür. Mit mir in einem Loch im sechsten Stock zu wohnen, mußte beängstigend für sie sein – vor allem, wenn sie beim Aufwachen feststellte, daß ich verschwunden war, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Manche Mädchen hätten sich an ihrer Stelle vielleicht an den Hausmeister rangemacht. Zum Glück hatte Smaractus nie einen eingestellt. Aber wenn ich Helena behalten wollte, mußte ich mir was einfallen lassen.
»Ich vermisse dich auch.« Es klang unecht.
»Ach ja? Und deshalb warst du so gütig, nach Hause zu kommen?«
»Ja, und außerdem muß ich warten, bis man mir einen Zeugen schickt.« Mir kam ein Gedanke. »Du kannst doch genauso gut mitkommen und Protokoll führen wie irgendein Trottel von den Vigiles.« Sie sah mich erstaunt an. »Zieh ein schlichtes Kleid an und keinen Schmuck. Bring einen Stilus mit und unterbrich mich nicht. Protokollanten, die immer ihren Senf dazugeben müssen, kann ich nicht leiden.«
Also kam Helena mit. Auch sie schlug sich nicht gern mit häuslichen Sorgen rum.
Mir war es sehr recht, meine Ermittlungen ohne einen von Petros Aufpassern im Nacken durchzuführen, der mir die Luft zum Atmen nahm und ihm hinterher sofort alles petzte. Und es paßte mir ausgezeichnet, mit meinem Mädel zusammenzusein – eher ein Vergnügen als Arbeit.
Wir schickten Marius nach Hause zu Maia, mit dem Rat, Tertullas Verschwinden zu beichten, und dem Versprechen, von der Brunnenpromenade aus eine Suche zu organisieren, falls das Mädchen bis zum Abend nicht wieder aufgetaucht war. Marius war einverstanden. Er
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