Gnadenlos (Sara Cooper)
letzte Mal gesehen? Sara blieb kurz an der Tür stehen und ordnete ihre Gedanken. Das musste vor knapp vier Jahren gewesen sein. Obwohl Mia seit über einem Jahr in San Diego lebte, hatten sie selten Kontakt. Mal eine Karte zum Geburtstag, mehr nicht. Früher, als Mia noch ein Kind war, hatten sie ein sehr inniges Verhältnis gehabt. Damals war sie oft bei ihrer Schwester gewesen. Aber unter der immer schwieriger werdenden Verbindung zu Jane hatte auch die Beziehung zu ihrer Nichte gelitten. Sie würde das Mädchen heute wahrscheinlich kaum wieder erkennen. Aber es war ihre Nichte und sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie ging mit langsamen Schritten den Flur entlang zurück ins Wohnzimmer. Im Flur hingen Bilder von ihrer kleinen Familie. Sie betrachtete sie kurz und überlegte, ob sie Matt und Noah schon wieder so etwas antun konnte. Ihr war klar, dass sie nicht nur für ein paar Tage weg sein würde. Aber der Gedanke, dass Mia etwas passiert sein könnte, ließ ihr keine Ruhe. Matt kam zur Terrassentür herein. „Was ist passiert?“, fragte er. Er ging auf Sara zu. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Hör zu, Schatz.“ Sie zögerte. „Mia ist verschwunden. Ich werde nach Thailand fliegen und sie suchen.“
Matt blieb stehen, es schien, als würde er das Gesagte nicht verstehen. „Bitte was?“, entgegnete er. „Thailand? Was um alles in der Welt hat sie in Thailand zu suchen?“
Sara setzte sich und legte ihre Hände in den Schoß. „Es war ein Geburtstagsgeschenk von ihren Eltern. Sie ist seit über einer Woche verschwunden. Jedenfalls hat Jane seitdem nichts mehr von ihr gehört.“
Er schüttelte den Kopf. „Sara, du kannst nicht nach Thailand. Das lässt dir Miller niemals durchgehen.“
Sara verschränkte ihre Arme vor der Brust. Miller. Miller war ihr Vorgesetzter. Ein Mann der alten Schule, zielstrebig und streng, dessen wahre Gefühle nur der Spiegel zu sehen bekam. Immer wieder geriet Sara mit ihm aneinander. „Er wird davon nichts erfahren. Ich nehme Urlaub wegen einer Familienangelegenheit. Was ich in diesem Urlaub mache, geht ihn nichts an.“ Ihre Stimme klang fest. „Es ist meine Nichte, Matt. Ich muss das tun.“
Matt wusste, dass ihr Entschluss bereits fest stand. „Wann fliegst du?“, fragte er.
„Sobald wie möglich. Ich fahre heute noch zu Jane nach Del Mar und von dort aus nehme ich den nächsten Flieger.“ Sara ging ins Schlafzimmer, griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer. Nach wenigen Augenblicken hob jemand ab. Sara wirkte erleichtert. „Cruz, ich brauche deine Hilfe.“
Kapitel 5
Del Mar, San Diego
In Windeseile hatte Sara einen Rucksack mit den wichtigsten Dingen gepackt und saß nun in ihrem Wagen. Ihren alten Ford Sierra hatte sie mittlerweile gegen einen Cherokee Jeep eingetauscht, der zudem als Familienkutsche diente. Matt saß am Steuer und fuhr sie zu ihrer Schwester. Sara war angespannt, schaltete genervt das Gebläse aus und machte das Radio leiser. Sie bogen auf die Interstate 5 und nahmen den Weg nach Del Mar, einem noblen Vorort von San Diego.
„Hältst du das für wirklich eine gute Idee, Sara?“
Sara seufzte und blickte ihren Mann von der Seite an. „Ich habe keine Ahnung, Schatz. Ich weiß nur, dass ich es versuchen muss. Vielleicht klärt sich auch alles ganz schnell auf.“
Del Mar war bekannt für seine langen Sandstrände und die Pferderennbahn. Saras Mutter hatte ihr erzählt, dass Jane und Rick dort öfters ihre Sonntage verbrachten. Die Beiden waren erst vor etwas mehr als einem Jahr aus Los Angeles dorthin gezogen. Rick war ein angesehener Universitäts-Professor und hatte ein lukratives Jobangebot bekommen. Jetzt unterrichtete er an der San Diego State University Amerikanische Geschichte. Jane hatte eine gute Wahl mit Rick getroffen. Auch wenn Sara ihren Schwager nicht oft sah – sie mochte ihn. Er hatte eine angenehme, humorvolle Art und nahm die Dinge nicht so ernst wie Jane. Zudem war er nicht unattraktiv. Anfang 40, kantiges Gesicht, groß und schlank, dunkles, graumeliertes Haar. Sara hatte nur gehofft, dass sie sich unter angenehmeren Umständen wiedersehen würden.
Als sie in Janes Viertel einbogen, flogen Villen mit weitläufigen Grundstücken an Saras Fenster vorbei. Matt fuhr die lange Auffahrt entlang und parkte vor dem großen Eingangsbereich. Rosenbüsche säumten die Front, die rechte und linke Seite wurden von Magnolien und Eichen beschattet. „Hier wohnt also meine Schwester“, sagte Sara.
Matt
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