Gnadenlos (Sara Cooper)
ihren Abschluss gemacht und wollen auch dieselbe Uni besuchen. Sie sind nahezu unzertrennlich. Seit ein paar Wochen wohnt Claire sogar hier.“
„Wie, sie wohnt bei euch?“, fragte Sara.
Jane atmete tief durch. „Ja, sie hatte wohl einen fürchterlichen Streit mit ihrer Mutter und wollte keinen Tag länger bei ihr und ihrem neuen Mann leben. Was genau vorgefallen ist, wissen wir nicht.“
„Ihre Mutter weiß also auch nicht, wo sie abgeblieben sein könnte? Und was ist mit ihrem Vater?“, fragte Sara.
Rick schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ihre Mutter hat auch keine Ahnung, ich habe mit ihr telefoniert. Ihr Vater ist vor ein paar Jahren gestorben.“
„Was wisst ihr noch von ihr?“
Ihre Schwester überlegte und schaute Rick an. „Eigentlich wissen wir gar nichts über sie. Sie hat aber immer einen vernünftigen Eindruck gemacht“, antwortete sie unsicher.
Sara schrieb alles mit. „Okay.“ Sie nickte. „Hat Mia einen Freund?“
Jane schüttelte den Kopf. „Nicht mehr. Mit Todd ist es vorbei, schon seit fast einem halben Jahr. Seitdem hat sie nichts mehr von einem Freund erwähnt.“
Sara nahm einen Schluck von ihrem Wasser, während sie nachdachte. „Ich brauche ein aktuelles Bild von Mia.“
„Natürlich.“ Rick stellte sein Glas ab und ging durch das Wohnzimmer zu einer Kommode, auf der seine Brieftasche lag. Mit leicht zitternder Hand zog er das Bild seiner Tochter hervor. Er blickte es kurz an, hielt inne und kam zurück zu den Frauen. „Hier, das ist ungefähr zwei Monate alt.“
Sara betrachtete die Aufnahme. Mia war hübsch und richtig erwachsen geworden, sie hatte ein humorvolles Gesicht. Ihre schulterlangen braunen Haare trug sie in einem Zopf, ihre blauen Augen strahlten und ihr Blick drückte Zuversicht aus. Sara holte tief Luft und stand auf. „Kann ich Mias Zimmer sehen, das sie ja offensichtlich die letzten Wochen mit Claire geteilt hat?!“
Rick schüttelte den Kopf. „Nein, Claire hat das Gästezimmer hier unten bekommen. Ich zeig es dir, komm.“
Kapitel 6
Mia kam langsam zu sich. Es gab vereinzelte Wachmomente, aber das Zeitgefühl hatte sie schon lange verlassen. Es roch nach Feuchtigkeit und Schimmel. Stickige Luft machte ihr das Atmen schwer. Sie hustete. Wenig Licht fiel durch das vergitterte Fenster. Erst schemenhaft, dann immer deutlicher nahm Mia ihre Umgebung wahr. Die Zelle war nicht groß, der Boden aus Beton. Ein paar löchrige Matratzen lagen herum und in einer Ecke befand sich in einem Verschlag eine Toilette. Die zwei an die Wand montierten Waschbecken mussten einmal weiß gewesen sein, jetzt standen sie vor Dreck und Rost. Die Zelle war überfüllt, zwei Frauen stritten gerade lautstark um einen Schlafplatz. Es stank erbärmlich und zudem war es unerträglich heiß.
Zweimal täglich wurde den Frauen eine Handvoll Reis mit etwas Fleisch und Gemüse auf einem Stück altes Zeitungspapier serviert, aber Mia hatte nur Wasser zu sich genommen. Meistens kauerte sie in einer Art Schockstarre am Boden, die Arme fest um ihre Brust geschlungen. Sie trug immer noch die Kleidung, in der man sie hierher gebracht hatte, war aber barfuß. Um so wenig Aufsehen wie möglich zu erwecken, mied sie jeden Blickkontakt zu ihren Mithäftlingen. Sie verstand ohnehin kein Wort. Nur ein junges Mädchen hatte europäische Züge. Der ständige Geräuschpegel zerrte an Mias Nerven. Alle waren laut. Sie hielt sich die Ohren zu und kauerte auf dem Boden, als ihr das weiße Päckchen wieder einfiel.
Kapitel 7
Del Mar, San Diego
Das Gästezimmer ist größer als Noahs Zimmer, ging es Sara durch den Kopf. Es war schlicht ausgestattet und machte den Eindruck, als wäre es kaum benutzt worden. Ein gemachtes Bett, eine Kommode und ein Schrank. Kein Fernseher, keine Musikanlage. „Hat sie nichts von zuhause mitgebracht?“, wandte sie sich an Rick.
„Nein, sie kam mit einem Rucksack und ihrer Gitarre hier an. Den Rucksack hat sie mit auf die Reise genommen. Was mit der Gitarre ist, weiß ich nicht.“ Er schaute sich im Zimmer um. Sara öffnete den Schrank, darin hingen ein paar dickere Jacken und Pullover. „Die brauchte sie wohl nicht in Thailand“, murmelte sie vor sich hin. „Was hat Claire für einen Eindruck auf dich gemacht? Wirkte sie in sich gefestigt oder eher labil?“ Sie blickte Rick an, der mittlerweile auf dem Bett saß.
„Ich weiß es nicht. Das habe ich mich in den letzten Tagen auch öfters gefragt: Wer war dieses Mädchen eigentlich? Ich hatte kaum etwas mit
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