Gnadenlose Gedanken (German Edition)
einzige Mensch, der mit dieser Fähigkeit ausgestattet war. Da gab es in einem Dorf am Arsch der Welt eine alte, stotternde Oma, die in meinem Kopf herumschlich, wie ein Fuchs in einem Hühnerstall.
Manfred stand unter der Dusche und sang lauthals von tausend Fässern Whiskey, die er leeren wollte, und dass er nie wieder ohne seine Liebste zur See fahren wollte.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
[Fürchte dich nicht vor mir. Ich möchte dir nur helfen. Ich rate dir, geh nicht zurück!
Er
wird dich überall suchen, aber
hier
wird er dich nicht finden! Bleib hier, bleib bei mir! Ich werde mich um dich kümmern, werde dich versorgen. Ich bin vielleicht alt, aber ich bin stark. Glaube mir, ich habe in meinem Leben schon so manche Schlacht gewonnen. Ich werde dich vor ihm beschützen.]
Ich starrte sie fassungslos an. Das war alles zu viel für mich. Wie war das nur möglich? Klarer Fall! Bei dem Unfall hatte ich mir nicht nur das Rückgrat gebrochen, sondern auch eine Kerbe ins Gehirn geschlagen. Ich bildete mir das alles doch nur ein! In Wirklichkeit lag ich jetzt in einem Heim für geistig Weggetretene, und gleich würde der Pfleger kommen, um mir meine Beruhigungsspritze zu verabreichen. Ich hätte jetzt auch dringend eine nötig gehabt, die letzte Injektion verlor offensichtlich ihre Wirkung. Aber kein Pfleger kam, niemand gab mir meine Medizin. Stattdessen sprach die Alte zu mir. Und sie sprach zu mir, ohne zu reden.
[Du bist noch jung, du bist jetzt verwirrt. Ich kann deine Zweifel sehr gut verstehen. Aber es ist wahr! Du hörst meine Gedanken und ich höre deine. Und deine verraten mir, dass du große Angst hast. Mit Recht! Er wird erst dann seine tödliche Jagd beenden, wenn er dich erlegt hat. Wusstest du, dass er das Blut seiner Opfer trinkt? Er ernährt sich davon. Und er benötigt täglich mehr. Anfangs genügte ihm das Blut eines Kaninchens, mittlerweile braucht er bereits den Saft von größeren Kreaturen. Er glaubt, es würde ihn stärken. Je größer seine Opfer, umso stärker die Macht, die er aufsaugt. Und weißt du, warum er soviel Macht braucht? Warum er dem Glauben verfallen ist, sich stärken zu müssen? Um für den Kampf gegen dich gewappnet zu sein! Du bist sein größter Gegner. Du stehst zwischen ihm und seiner Mission. Er fürchtet dich sogar. Er fürchtet dich mehr, als du ihn! Und trotzdem hast du keine Chance gegen ihn. Selbst wenn du noch gesund wärst, wenn dich deine Beine noch tragen könnten. Gegen seine Kraft könntest du nichts ausrichten. Denn du denkst nicht so wie er. Er denkt wie ein wildes Tier, er
ist
ein wildes Tier! Halte dich von ihm fern, geh ihm aus dem Weg. Bleib bei mir!]
[Ich kann nicht! Ich habe keine Wahl mehr. Es ist zu spät. Er wird viele Menschen töten, Menschen, die das Pech haben, mich zu kennen. Menschen, die mir zu nahe sind. Er wird sie töten. Und das kann ich nicht zulassen! Unmöglich! Ich muss mich ihm stellen. Ich muss versuchen, ihn aufzuhalten. Vielleicht werde ich ja Hilfe finden. Ich werde zur Polizei gehen. Sie werden mir helfen. Ich muss ihn aufhalten!]
Ich hatte diese Sätze herausgeschrieen. Doch die Alte hielt sich nicht ihre Ohren zu, und Manfred kam auch nicht triefendnass aus dem Bad geschossen, um zu sehen, warum ich so ein Geschrei veranstaltete. Denn es waren stumme Schreie gewesen. Schreie, die von der Alten gelesen worden waren, so wie sie täglich ihre Zeitung las.
[Du weißt doch ganz genau, dass dir die Polizei nicht glauben wird], dachte sie höhnisch.
[Vielleicht würden sie dich
nicht
zwingen, einen Arzt aufzusuchen, vielleicht würden sie dich
nicht
in ein Heim sperren; aber sie würden dir niemals glauben! Die Menschen sind viel zu ängstlich, um an Telepathie oder ähnliches zu glauben! Sie wollen nur an das glauben, was sie sehen können. Sie glauben eher einem Film im Kino als einem Mann im Rollstuhl, der ihnen etwas von großen Männern erzählt, und dass er fremde Gedanken entziffern könne. Meinst du nicht auch?]
Sie hatte natürlich Recht. Niemand würde mir glauben. Selbst Manfred, der mich am besten kannte, würde an meinem Geisteszustand zweifeln. Da war ich mir so sicher, dass ich noch nicht einmal einen Versuch wagte. Obwohl ich ihm mittlerweile vertraute, würde ich es ihm niemals erzählen können, aus Angst, er könnte mich für verrückt halten.
Also musste ich es ohne fremde Hilfe versuchen. Ich, der Mann im Rollstuhl, der sich vor wenigen Wochen nicht alleine aus dem Haus
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