Gnadenlose Gedanken (German Edition)
hatte Manfred es tatsächlich noch geschafft, mich auszuziehen und ins Bett zu verfrachten.
Die Alte machte uns ein Spezialfrühstück, wobei die warme Blutwurst noch die appetitlichste Zutat darstellte. Manfred verschlang seine Portion, als ob es für ihn die letzte Mahlzeit sei. Ich beschränkte mich auf drei Tassen Tee und ein paar Corn Flakes. Die Alte hatte uns ausschlafen lassen, so dass wir erst ziemlich spät in Richtung Cliffs aufbrachen. Gegen elf Uhr erreichten wir unser Ziel. Es wimmelte bereits von Touristen aus allen möglichen Ländern. Die unterschiedlichsten Gedanken konnte ich aufnehmen, doch ich registrierte sie dieses Mal nur beiläufig. Zu überwältigend waren die Eindrücke. Mindestens 200 Meter ragten die Klippen steil in die Höhe. Tausende von Seevögeln tummelten sich in den Felsnischen und schafften es, die tosende Gischt des Meeres mit ihren Schreien zu übertönen. Eine wunderbare Kulisse! Ich war überwältigt! Es war der herrlichste Ort, den ich jemals erlebt und gesehen hatte. Ein seltsames, fast melancholisches Gefühl erfasste mich. Ich beobachtete die Möwen. Sie flogen nicht, sie
schwebten
in dem rauen Wind. Sie benötigten ihre Flügel nicht. Es schien, als ob jedes Lebewesen, ganz gleich ob flugtauglich oder nicht, an diesem magischen Ort in die Luft würde steigen können.
Ich wollte den Vögeln näher sein, und bat Manfred, mich aus dem Rollstuhl zu heben. Ich legte mich auf meinen Bauch und robbte bis an den äußersten Rand der Klippen heran. Manfred forderte mich auf, vorsichtig zu sein, ihm war das alles viel zu gefährlich. Doch ich bat ihn, mich alleine zu lassen. Irgendwie erfasste er meine Stimmung und akzeptierte meinen Wunsch. Ich lag alleine 200 Meter oberhalb des tosenden Ozeans und hatte die Welt vergessen. Der kalte Sprühnebel der Gischt schlug mir ins Gesicht, und ich hörte nur noch Wind, Wasser und Möwen. Die Möwen schienen vor Freude zu lachen. Sie spielten mit dem Wind. Sie spielten nachlaufen(-fliegen!), und kümmerten sich einen Scheißdreck um mich, oder die anderen Gestalten, die hier herumlungerten. Einige kamen bis auf Armeslänge an mich heran geflogen, und ich sah in ihre Augen. Was ich dort betrachtete, machte mir eine Gänsehaut. Aus ihren Augen sprach die pure Lust. Wenn ich ein gläubiger Mensch gewesen wäre, hätte ich gesagt, dass ich Gott ganz nah gewesen bin. Auf jeden Fall war ich dem Himmel nah. Nein, ich war
im
Himmel, mitten in seinem Zentrum! Ich blickte hinunter. Tief unten kämpfte das Meer gegen die Felsen. Ein Jahrtausendalter Kampf, der noch keinen Sieger verdient hatte. Ich robbte noch etwas näher an den Rand, ich wollte
alles
sehen.
Da entdeckte ich unmittelbar unter mir einen Felsvorsprung, auf dem eine Möwe saß. Sie schaute mich neugierig an, beobachtete mich. Angst schien sie vor mir nicht zu haben. Wahrscheinlich wusste sie genau,
wie
überlegen sie mir war. Ich lächelte sie an, wie man einen alten Freund anlächelte, den man nach vielen Jahren Trennung plötzlich wieder traf.
„Hallo, wie geht`s?“, sagte ich.
Sie antwortete mir nicht, sondern ließ sich plötzlich fallen. Sie hatte die Flügel nicht ganz ausgebreitet, das hätte ihr Schweben zu sehr abgebremst. Schnell war sie hundert Meter tiefer, und als ich bereits befürchtete, sie könnte auf die Felsen aufschlagen, breitete sie ihre Flügel aus und flog eine kleine Kurve nach rechts. Mit einem kurzen, höhnischen Kreischen verschwand sie aus meinem Blickwinkel.
Ich wollte es ihr nachtun. Ich wollte mich abstoßen und auf dem Wind spazieren gehen. Ich konnte auch fliegen, konnte dem Meer langsam entgegenschweben. Und falls meine Flügel versagen würden, wäre das auch nicht weiter tragisch gewesen. Ich würde einfach ins Meer eintauchen, und dort mein Leben weiterleben. Kein Rollstuhl, keine hysterische Mutter, kein durchgeknallter Koloss, der mir den Hals umdrehen wollte. Nur Wind und Wasser, alles andere war unwichtig.
Ich robbte mich noch näher an den Rand heran. Gleich würde ich der Möwe folgen. Ich war neugierig, wo sie hingeflogen war. Einige Steine lösten sich unter mir und stürzten in die Tiefe. Ich verfolgte sie mit meinen Augen, doch sie wurden schnell kleiner, und bevor sie ins Meer fielen, hatte ich sie verloren.
Ich flog los.
Doch irgendetwas hielt mich fest; irgendetwas sehr kräftiges. Für einen Moment hatte ich die Befürchtung, der Koloss hätte mich doch aufgespürt, und würde mich nun um meinen Spaß bringen.
„Lass mich
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