Gnadenlose Gedanken (German Edition)
zukommen, und es schien nicht so, als ob es uns aus dem Weg gehen würde.
Ich schrie „Scheiße!“ und „Achtung!“, aber es hörte mich natürlich niemand.
Die anderen Passagiere waren mit sich selber beschäftigt, die meisten verfluchten sich gerade, weil sie nicht auf ihr Frühstück verzichtet hatten, was einige jetzt doch unfreiwillig tun mussten. Keine Ahnung, ob der Kapitän oder seine Mannschaft, das andere Schiff ebenfalls bemerkt hatten; das war jetzt aber auch ohne weitere Bedeutung, denn die zwei schwimmenden Stahlkolosse knallten auf- und ineinander. Es entstand ein Geräusch, was ich niemals wieder vergessen werde, - vorausgesetzt, ich werde noch einmal in den Genuss von Erinnerungen kommen. Die Fähre und das Schiff vereinigten sich wie ein Liebespaar, das sich nach langer Zeit der Entbehrungen wiedersah. Sie umarmten und vermengten sich, es gab nur noch
ein
Stahlgebilde, mit zwei rat- und hilflosen Kapitänen. Und einer Menge Passagiere, die in Panik gerieten, soweit sie dazu noch Zeit hatten, bevor sie über Bord gingen.
Ich hatte mit meinem Rollstuhl alleine am Bug gestanden, die anderen hatten ruhigere Orte vorgezogen. Ich wurde von einer riesigen Welle erfasst, die mich wie ein Sektkorken über die Reling spülte.
Das Meer nahm von dem angeschlagenen Gegner Besitz. Spielend leicht bemächtigte es sich der Fähre. Sie war eine leichte Beute.
Durch das tosende Wasser konnte ich schreiende Menschen hören. Ich tauchte ins Wasser, und dort blieb ich länger, als mir und meinen Lungen lieb sein konnte. Ich war ja einiges gewohnt, während meiner aktiven Zeit als Leistungsschwimmer, hatte ich im Training mehrmals das Schwimmbecken
unter
Wasser durchschwimmen können, ohne auch nur einmal zwischendurch Luftholen zu müssen. Meine Lungen waren es gewohnt, mehrere Minuten ohne Sauerstoff auszukommen, und das rettete mir fürs erste mein Leben.
Nach einer Ewigkeit, mir wurde es bereits schwarz vor Augen, trieb ich wieder an die Oberfläche. Doch es gelang mir nicht, mich oben zu halten. Ohne funktionierende Beine, nur mit Hilfe meiner – zugegeben – starken Arme, hatte ich keine Chance, mich über Wasser zu halten. Mir wurde es gerade einmal gestattet, ein Häppchen Luft zu schnappen, dann ging es auch schon wieder abwärts. Entweder war das Meer großzügig, oder es wollte mich noch etwas zappeln lassen. ( Im doppelten Sinne!).
Ich verspürte einen vertrauten Schmerz hinter dem rechten Ohr. Es war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, in fremden Köpfen zu schmökern! Mit einem Reflex drehte ich meinen Kopf nach hinten. Der Schmerz hatte nichts mit irgendwelchen fremden Gedanken zutun gehabt, er hatte die Ankunft eines Balkens verkündet, der an meinem Hinterkopf einen kurzen Zwischenstop eingelegt hatte. Er wollte sofort weiter, auch ihn zog es dringend an die Oberfläche. Da er dieselbe Richtung wie ich hatte, beschloss ich, mich ihm anzuschließen. Er schien aber etwas dagegen zu haben. Schnell war er aus meinem Blickwinkel verschwunden, der allerdings auch, acht Meter unter der Wasseroberfläche, sehr eingeschränkt war. Wenn nicht bald etwas geschah, würde ich sehr schnell herausfinden, ob es ein Leben nach dem Tod gab. Ich interessierte mich aber momentan mehr für das Überleben
vor
dem Tod! Für einen ehemaligen Lebensmüden war ich erstaunlich hartnäckig, was das Weiterleben anging. So schnell wollte ich dann doch nicht abtreten. Dass ausgerechnet ich ertrinken sollte, wollte ich einfach nicht einsehen. Kein Kinobesucher hätte so eine abgedrehte Story geglaubt, kein Hollywood-Produzent hätte sie verfilmt. Ehemaliger Leistungsschwimmer, nach einem Sturz ins Wasser querschnittsgelähmt, ertrinkt in der Irischen See! Kein Mensch hätte so eine Geschichte geglaubt, und auch ich wollte sie nicht wahrhaben. Also suchte ich nach einem Ausweg, und ich fand ihn in Gestalt eines großen Lederkoffers. Er war nicht ganz so widerborstig wie der Holzbalken, und ließ mich an sich heran. Ich klammerte mich an ihm fest, wie ein Faultier an einen Baum. Nichts in der Welt hätte mich wieder von ihm trennen können. Jetzt musste er nur noch die richtige Richtung einschlagen. Und tatsächlich, er trieb nach oben. Zwar aufreizend langsam, aber es war immerhin schon einmal ein guter Anfang. Ich hätte gerne mit meinen Beinen etwas nachgeholfen, aber das wollte mir einfach nicht gelingen. Meine Lungen schmerzten, als hätte ich brennendes Benzin verschluckt, das Blut hämmerte in meinen
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