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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wagner
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zog durch. Zum zweiten Mal erreichte ich das Boot, und mit einem großen Wutschrei sprang ich es an, und klammerte mich an seiner Seite fest. Ich beschimpfte es und lachte es aus, weil es gegen einen Krüppel verloren hatte. Er versuchte mich abzuschütteln, dabei nahm es unfairerweise die Kraft des Meeres zu Hilfe. Doch es war zu spät. Mit meinen kräftigen Armen zog ich mich hinauf, und ich ließ mich wie ein nasser Aal ins Innere gleiten.

    Ich lachte laut auf und gratulierte mir zu dem größten Sieg meiner Karriere. Ich hatte soeben meinen ganz persönlicher Rekord gebrochen.

    Manfred wäre stolz auf mich gewesen. Manfred. Was war mit ihm geschehen? Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er hatte kotzend an der Reling gestanden und kaum registriert, dass ich mich in Richtung Bug verabschiedet hatte. Er war nicht austrainiert. Der einzige Körperteil Manfreds, der ungewöhnlichen Belastungen standhalten konnte, war sein Magen. Obwohl es eben nicht danach ausgesehen hatte. Er besaß zwar zwei gesunde Beine, aber ob er auch die Ausdauer besaß, sie effektiv einsetzen zu können?

    Ich setzte mich aufrecht, und versuchte die Umgebung zu erfassen. Ein Körper trieb am Boot vorbei, mit dem Kopf nach unten. Da schnorchelte jemand ohne die nötige Ausrüstung! Es war vielleicht ein sarkastischer Gedanke, der mich selber entsetzte. Aber ich war so euphorisch über meine eigene Rettung, dass ich keinen Platz für Mitleid hatte. Ich ekelte mich vor mir selber.

    Ich rief nach Manfred, ein kindischer Versuch. Aber war in den letzten Minuten nicht so viel Unnatürliches geschehen? Ich wäre auf jeden Fall nicht besonders überrascht gewesen, wenn Manfred mit einem fröhlichen „Hallo, wie geht`s?“ ins Boot geklettert wäre. Doch ich bekam keine Antwort. Erschöpft ließ ich mich auf den Boden des Bootes sinken. Ich fühlte mich, als hätte ich den Ärmelkanal durchschwommen. Meine Augen brannten vor Müdigkeit und vom Meerwasser. Ich schloss sie für einen kurzen Augenblick…

    Aufgeweckt wurde ich von dem vertrauten Stich hinter dem rechten Ohr. Zuerst wusste ich gar nichts damit anzufangen, zu lange war es her, dass ich das letzte Mal die Gedanken eines Menschen gelesen hatte. Zuviel war seitdem geschehen. Ich begann mich bereits zu fragen, ob ich wahnsinnig geworden sei, so wirr waren die Gedanken. Da erst begriff ich, dass es nicht meine eigenen waren.
    [Haie, Haie, Haie, Haie, Haie.]

    Ich deutete die Worte zuerst falsch, und dachte, da versuche jemand, sich in den Schlaf zu singen. Doch es war kein simples Schlaflied, niemand sang von der Heia. Es waren die in Worte gefassten Ängste eines Menschen, der hilflos im Meer trieb. Da schwamm jemand in der Irischen See, und hatte die Befürchtung von einem Hai angeknabbert werden zu können! Ich konnte nicht ausmachen, wer es dachte und auch nicht, wo er sich befand. Konnte sein, dass er einen halben Meter hinter meinem Rettungsboot trieb, es war aber auch möglich, dass er zehn Meilen entfernt war. Ich versuchte, ihn mit einem lauten Ruf zu erreichen, doch ich bekam keine Antwort. Vielleicht hatte ihn inzwischen ein imaginärer Hai verspeist. Wäre zu schade gewesen, ich hätte ihm gerne erklärt, dass die gefährlichsten Tiere in diesen Gewässern die atommüllverseuchten Heringe waren, die ihn mit fünf verdrehten Augen anglotzen könnten.

    Ich wollte mich gerade wieder hinlegen, als ich Zeuge einer ganz besonderen Premiere wurde. Ich hatte schon oft von diesem Klischee gelesen, dass ein Sterbender sein gesamtes Leben wie einen Kinofilm vor seinem geistigen Auge sehen könnte. Ich war stets der Meinung gewesen, dass dabei stark übertrieben wurde. Aber was sich dann in meinem Kopf abspielte, war ein wahres Filmfestival.

    Ich begriff sofort, dass es viele Überlebende geben musste, alle wollten sie in meinem Hirn ihr Können zur Schau stellen. Dutzende von fremden, absolut abgedrehten Gedanken, schwirrten durch meine Birne.

    [Die Erzieherin in meinem Kindergarten Die Warze auf ihrer Wange hat mir immer so viel Angst gemacht. Das rote Fahrrad. Warum durfte Rosi das blaue haben? Ich hatte es mir doch so sehr gewünscht! Frau Degenhardt. Sie hatte so wunderschöne Brüste! Die verdammte Bundeswehr! Diese Zeit habe ich gehas-…]
    [Kirschbäume. So viele Kirschbäume in Omas Garten. Jeden Sommer Sonnenbrand und Magenschmerzen. Kirschbäume.]
    [… eigentlich doch immer gerne schwimmen! Und heute muss ich ertrinken, weil dieser

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