Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Ohren, es übertönte sogar das Tosen des Meeres. Der Koffer schien es nicht so eilig zu haben. Gemütlich, als würde er es genießen, setzte er seinen Weg nach oben fort. Also gut. Ich hatte bis zum Schluss gekämpft, hatte mich nicht aufgegeben. Mein alter Trainer wäre sehr stolz auf mich gewesen, hätte mir für den restlichen Tag vielleicht trainingsfrei gegeben. Mehr konnte man nicht von mir verlangen. Ich beschloss, meinen Mund aufzureißen, wie ein Fisch wollte ich mein Maul öffnen, in der Hoffnung, plötzlich unter Wasser atmen zu können. Mein Kopf wusste zwar ganz genau, wie blödsinnig diese Idee war, aber mein Körper wollte nicht länger auf ihn hören.
Gleich würde ich Wasser statt Luft in meine ausgehungerten Lungen einsaugen, und dann würde endlich Schluss sein.
Ich war ganz schön wütend. Ich wollte nicht sterben, schon gar nicht so! Als ich es nicht mehr länger aushalten konnte, sah ich plötzlich durch meine brennenden Augen so etwas, das wie eine Wolke aussah. Der Himmel! Aber unter Wasser gab es keinen Himmel! Ich war oben! Wie eine hysterische Operndiva schnappte ich nach Luft. Wie ein verdurstender Wüstenkriecher trank ich den Sauerstoff, in der Angst, es könnte nicht genug davon geben. Vielleicht würde das Meer seine Spielchen weiterspielen und mich erneut einfangen wollen. Also hieß es erst einmal, so viel wie möglich tanken. Ich pumpte die Luft tief in mein Innerstes und wollte sie nicht mehr hergeben.
Doch das Meer ließ mich nun zufrieden. Der Koffer blieb oben, und er versuchte nicht, mich wie ein Rodeopferd wieder abzuwerfen. Er schien auch müde zu sein. Obwohl das Wasser eiskalt war, spürte ich, wie die Erschöpfung die Herrschaft über meinen geschunden Körper übernahm. Mein ramponierter Körper wollte tatsächlich schlafen! Wie konnte man in so einer beschissenen Situation nur an Schlafen denken?
Der Koffer tanzte wie ein Tischtennisball auf den Wellen, aber er ging nicht mehr unter. Trotzdem sah ich mich nach einem Ersatz um; besonders viel Vertrauen hatte ich nicht in meinen Lebensretter. Er war halt nicht der Größte, und was würde geschehen, wenn er sich voll Wasser saugte? Einige Meter entfernt, entdeckte ich tatsächlich etwas, was wie ein Rettungsboot aussah. Das Leben hält eben immer wieder Überraschungen für einen bereit. Vielleicht hatte mein ganz persönlicher Manitu doch noch etwas mit mir vor?
Ich rief um Hilfe, wollte die Insassen des Bootes auf mich aufmerksam machen. Aber keine Reaktion. Wie ein Gespensterschiff trieb es im Meer, es ignorierte mich einfach. Fing das Meer schon wieder mit seinen fiesen Spielchen an? Mir reichte es! Ich hatte nicht vor, mich hier noch länger verarschen zu lassen. Ohne lange zu überlegen, ließ ich meinen Koffer los, in Gedanken sagte ich ihm tatsächlich ein herzliches „Danke“. Sollte er einmal in Schwierigkeiten geraten: auf meine Hilfe konnte er immer zählen, ich war ihm etwas schuldig!
Ich
schwamm
auf das Rettungsboot zu. Wie so ein kleines Fährunglück doch die Einstellung und das Leben eines Menschen verändern konnte! Mit kräftigen, aber ruhigen Armbewegungen, versuchte ich das Boot einzuholen. Es hatte seinen Weg fortgesetzt, ohne von mir Notiz genommen zu haben. Ich machte eine kleine Pause und rief erneut um Hilfe. Wieder keine Reaktion. Ob es leer war? Plötzlich kam mir der Gedanke, ich könnte vielleicht der einzige Überlebende sein. So abwegig war das gar nicht. Schließlich war es kein kleiner Auffahrunfall gewesen, es hatte ganz schön gerumst! Niemand hatte die Chance gehabt, sich auf den Unfall vorzubereiten, zu schnell war es geschehen. Ich setzte meine Schwimmversuche fort, zu schnell war die Distanz zwischen dem Boot und mir wieder größer geworden.
Mein Gehirn gab laufend den Befehl an meine Beine weiter, verdammtnochmal den Armen behilflich zu sein! Doch sie reagierten nicht. Ich konnte mich nur mit meinen Armen fortbewegen. Das ging natürlich entsprechend langsam vonstatten, aber der Abstand wurde geringer. Als ich nur noch einen Meter von dem Boot entfernt war, kam plötzlich eine große Welle und spülte es wieder aus meinem Dunstkreis fort. Das Meer war ein schlechter Verlierer, aber ich war ein großer Kämpfer. Wie in den alten Zeiten. Ich musste an meinen Trainer denken. Ich musste daran denken, was er mir in jeder Trainingseinheit eingetrichtert hatte. Ich hatte ihn oft deswegen verflucht, heute war ich ihm unendlich dankbar dafür. Ich gab mich nicht auf, ich
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