Gnadenlose Gedanken (German Edition)
Abenteuerurlaub nicht viel mehr verdient als ich? Sie beklagte sich doch immer wieder über zu wenig Abwechslung in ihrem Leben.
Oder mein Alter! Hier hätte er einmal unter Beweis stellen können, was er für ein toller Hecht war. Erst hätte er die wunderschöne Veronika retten können, um anschließend die Reederei in Millionenhöhe zu verklagen.
Noch gerechter wäre es natürlich gewesen, wenn der Koloss hier rumpaddeln müsste. Er hatte mich doch erst aus dem Land getrieben. Ohne ihn würde ich jetzt immer noch auf dem Kennedy-Platz hocken, und den Gedanken meiner Stadtbewohner lauschen. Aber ich fürchtete, er wäre einfach ins Wasser gesprungen und solange geschwommen, bis er festen Boden unter seinen Elefantenfüßen gespürt hätte.
Nun saß ich stattdessen in meinem Quitschebötchen, und plauderte mit der, zugegeben, sehr attraktiven Veronika über das Ertrinken und Verdursten. Es wurde die philosophische Frage erörtert, welche Art zu sterben denn wohl die angenehmere sei. Eine Diskussion, der ich mich aber eher verschloss. Das waren Gedanken, die ich lieber nicht an mich heranlassen wollte. Meine Gedanken schweiften immer mehr ab in Richtung Sex im Gummiboot. Ich hatte ja schon öfter gehört, dass Gummi auf so manche Menschen eine ungemein erotische Wirkung haben sollte. Dies sah ich nun plötzlich in einem ganzen anderen Licht. Zum ersten Mal seit vielen Monaten interessierte ich mich wieder für ein Mädchen. Veronika war aber auch wirklich besonders hübsch und sehr nett. Da war es schon ziemlich schwierig, nicht an Sex zu denken, selbst wenn man eigentlich ein Mann war, der wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hatte. Immerhin mit schönen Gedanken sterben, das war mein aktueller Plan.
Veronikas Gedanken blieben mir leider verschlossen. Bisher war es mir noch nicht wieder gelungen, sie zu lesen. Das war aber wahrscheinlich auch besser so. Ich sah zwar ohne Rollstuhl nicht ganz so erbärmlich aus, machte aber immer noch einen eher kränklichen Eindruck. Die Enge des Bootes hatten meine dünnen Beine natürlich nicht verbergen können, und bei unseren regelmäßigen Positionswechseln hatte sie natürlich bemerkt, dass ich mich nicht so frei bewegen konnte, wie sie das von anderen Zwanzigjährigen vielleicht gewohnt war. Sie hatte das Thema auch angesprochen, und mich gefragt, ob es eine Krankheit oder ein Unfall war. Sie hatte das mit einer überraschenden Offenheit gefragt, ohne einen falschen Ton in ihrer Stimme. Doch ich hatte trotzdem schnell das Gespräch in andere Gefilde gelenkt; ich wollte einfach nicht mit ihr darüber reden. Sie hatte es akzeptiert, und mir von sich erzählt.
Sie studierte im vierten Semester Germanistik, hatte aber keine Ahnung, warum. Eine typische deutsche Studentin eben. Sie lebte noch bei ihren Eltern, mit denen sie sich sehr gut verstand. Dann gab es sie also doch, die glücklichen Eltern-Kind-Beziehungen. Ich hatte sie bisher immer für Märchen gehalten, hatte ich doch bis heute nie jemanden kennengelernt, der in so einer Beziehung glücklich lebte. Die Geschichten von anderen Leuten, die noch bei ihren Eltern wohnten, schienen mir eigentlich eher lebensecht zu sein, als das, was Veronika mir erzählte.
Natürlich wollte sie wissen, wie ich denn so lebte. Ich erzählte ihr von Manfred, und dass er ebenfalls auf der Fähre gewesen war. Danach verstummten wir für eine Weile, denn Veronika machte sich große Sorgen um ihre Freundin, die sie vor dem Zusammenstoß das letzte Mal gesehen hatte. Sie wusste genauso wenig, was aus ihr geworden war, wie ich über Manfreds Schicksal Bescheid wusste. Doch nach einigen Schweigeminuten vertieften wir uns wieder in unser Gespräch. Es mochte zwar gefühllos erscheinen, aber wir waren einfach zu neugierig aufeinander. Ich genoss es, die Gedanken eines fremden Menschen auf altmodische Art zu entdecken. Ich hatte es schon beinahe verlernt. Zu oft hatte ich in den vergangenen Monaten Gedanken
gelesen
. Dass man sie noch auf eine andere Weise begreifen konnte, hatte ich fast vergessen. Mittlerweile war ich sogar ganz glücklich darüber, dass ich in Veronika nicht lesen konnte. So fand ich es einfach viel spannender.
Wir waren so sehr in unserem Gespräch vertieft, dass wir manchmal vergaßen, die Aufgaben und Positionen zu tauschen. Das störte aber auch keinen von uns beiden. Richtig nett war`s.
Um ein Haar hätten wir dann auch unsere Rettung verquasselt. Wir hatten gar nicht die Ankunft des Polizeibootes bemerkt,
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