Gnadenlose Gedanken (German Edition)
erst ein lautes Hornsignal schreckte uns auf. Wie unromantisch, dachte ich seltsamerweise zuerst. Kein alter Kahn! Kein alter Seebär, sondern ein junger Kapitän. Aber immerhin gab es eine Decke und einen heißen Tee dazu. Besser als nichts. Ich hatte schon beinahe vergessen, dass ich in Seenot gewesen war, und doch eigentlich dringend auf Rettung gehofft hatte. Irgendwie fühlte ich mich schon beinahe ein wenig gestört von unseren Helfern. Das durfte man kaum laut aussprechen, das hätte auch wirklich niemand so recht glauben können. Ich hatte in den vergangenen Monaten so viel Mist durchgemacht und traumatische Erlebnisse durchlitten, dass mir ein stinknormales Gespräch so gut tat, wie eine mehrwöchige Erholungskur. Ich war wohl der erholteste und entspannteste Schiffbrüchige, den die Besatzung des Polizeibootes jemals aus dem Wasser geborgen hatte. Sie schauten mich auf jeden Fall so an, als wäre ich ein ganz besonders spezielles Exemplar. Veronika ging es zwar auch ganz gut, trotzdem schlief sie sehr bald ein. Anstrengend war es schon gewesen, ich war aber viel zu aufgewühlt, um an Schlaf denken zu können. Ich musste immer nur an Manfred denken. Der Kapitän versicherte mir, dass schon Hunderte von Schiffsbrüchigen in den letzten Stunden von den unterschiedlichsten Schiffen aufgenommen werden konnten. Dutzende Schiffe waren sofort an den Unglücksort geeilt, nachdem der Notruf per Funk gesendet worden war. Sicher hätte eines dieser Fahrzeuge auch meinen Betreuer gerettet.
Alle Schiffsbrüchigen wurden in eine Schule nahe Calais gebracht, die spontan als Notunterkunft umfunktioniert worden war. Dort würde ich sicher auch bald Manfred wiederfinden. Ich machte mir trotzdem ziemliche Sorgen, die auch nicht geringer wurden, nachdem der Kapitän mir von den grausamen Neuigkeiten aus meiner Heimat berichtete. Da musste wohl ein Verrückter eine Schule für körperbehinderte Kinder mit Gift heimgesucht haben. Ich brauchte gar nicht erst zu fragen, in welcher Stadt dieser Irre gewütet hatte. Der Kapitän nannte mir den Ort, und ich war nicht überrascht. Ich hätte ihm den Täter nennen können, aber ich hielt es für das beste, es erst einmal für mich zu behalten.
„Dieses dämliche Arschloch!“, fiel mir momentan als einziger Kommentar ein.
Der Kapitän des Polizeibootes sah mich fragend an, eine berufliche Neugier schien ihn befallen zu haben. Doch ich schüttelte nur den Kopf, was weltweit so viel bedeutete, wie:
„Schon gut. Ich habe zu lange in diesem pfeifenden Gummiboot gesessen, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können. Das wird aber schon bald wieder besser werden!“
Der Kapitän verstand mich auf Anhieb, und er gönnte mir etwas Ruhe. Ich blickte über das Meer, und dachte an Manfred, an meine Stadt, meine Eltern. Dachte an Blut und Riesen und Gott und Gerechtigkeit.
Laschek hatte die Phase, in der man über Gott und Gerechtigkeit nachdachte, schon seit vielen Blutstropfen hinter sich gelassen. Er war bereits nahe an dem Punkt, an dem man bereit war, zu betteln und Gott um Gerechtigkeit, und vor allen Dingen um Gnade anzuflehen.
Unter seinem Kopf hatte sich mittlerweile eine ziemlich große Pfütze gebildet, die ausreichte, ihm eine höllische Angst zu machen. Diese kleine Schnittwunde wollte einfach nicht aufhören zu bluten, wollte einfach nicht versiegen. Unter normalen Umständen wäre sie schon längst zu einer kleinen Kruste angetrocknet, hätte wahrscheinlich sogar schon begonnen zu jucken. Unter normalen Umständen! An seinen Umständen war aber auch wirklich
gar nichts
normal zu nennen. Er hing seit Stunden an einem Seil unter der Decke eines Hauses, das von einem Irren bewohnt wurde, der über 2 Meter 30 maß, und sich brennend für sein Ding interessierte. Außerdem dachte dieser gigantische Mensch, er müsste Gottes Bodyguard spielen, wäre dazu auserkoren, dessen Welt von allen Ratten zu befreien. Nun war dieser kranke Hüne losgezogen, um sich um irgendwelche Kinder zu kümmern, und es hatte ganz so ausgesehen, als ob er sich mittels Gift um sie kümmern wollte. Noch schlimmer, nach dieser Angelegenheit wollte er sich dann um
ihn
kümmern!
Das alles waren Umstände, die einen schon etwas Sorgen bereiten konnten. Aber Laschek war ja ein Optimist, (zwar erst seit ein paar Stunden, aber besser spät als nie), also schrie er laut um Hilfe. Er hatte die Hoffnung, irgendjemand, vielleicht ein Postbote, ein Penner, ein Vertreter, ein Milchmann, ein Marsmensch;
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