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Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Gnadenlose Gedanken (German Edition)

Titel: Gnadenlose Gedanken (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Wagner
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sah sie ein, und sofort begann sie mit dem Entleeren unseres Bootes.
    „Außerdem müssen wir dafür sorgen, dass nicht noch mehr Luft aus dem Loch dort neben dir entweicht.“
    Ich deutete auf den kleinen Pfeifer an ihrer Seite, den sie noch gar nicht bemerkt hatte. Sie hatte wohl auch nicht damit gerechnet, dass man soviel Pech an einem Stück haben konnte. Willkommen im Club! Sie sah mich verzweifelt und trostsuchend an. Sie hatte auch genug Ärger für diesen Tag gehabt, sie wartete zur Abwechslung einmal auf eine gute Nachricht. Doch die konnte ich ihr auch nicht vermelden. Ich deutete nur erneut auf ihre Seite und wies sie stumm an, das Loch mit ihrem steifgefrorenen Finger abzudichten. Brav drückte sie ihren Finger auf die Stelle und beobachtete meine Versuche, das Boot vom Wasser zu befreien.

    Wir wechselten uns regelmäßig mit diesen unheimlich lustigen Tätigkeiten ab, denn das Lochzustopfen war auf die Dauer ein wirklich undankbarer Job. Bei dieser Kälte war es sehr unangenehm, ruhig dazusitzen und einen verfrorenen Finger auf das Loch zu drücken. Das Wasserschippen war da schon etwas gefälliger, hatte man dabei doch wenigstens etwas Bewegung, welche die Kälte ein wenig lindern konnte.

    Laschek hätte auch gerne etwas Bewegung gehabt, baumelte er doch nun schon seit Stunden unter der Decke. Wenigstens fror er nicht. Dafür plagten ihn ähnlich große Sorgen. Langsam sehnte er die Rückkehr dieses Herrn Christmanns herbei, so wie die Christen die Wiederauferstehung von Jesus Christus erhofften. Er ahnte zwar, dass Christmann unter einem Pseudonym arbeitete, hätte er aber seinen wahren Namen gewusst, wäre er bestimmt in Tränen ausgebrochen. Tränen des Humors. Den hatte er zum Glück noch nicht verloren, obwohl er langsam doch ziemlich schlechte Laune bekam.

    Jesus pfiff indessen ein fröhliches Liedchen vor sich hin, seine Laune hätte kaum besser sein können. Ihm war es tatsächlich gelungen, in die Küche dieser ganz besonderen Schule zu gelangen, ohne dass er weiter aufgefallen wäre. Es erstaunte ihn immer wieder, wie leicht es trotz seiner Körpergröße für ihn war, sich irgendwo einzuschleichen, ohne dafür Ärger zu bekommen. Ein paar freche Lügen, ein freundliches Lächeln, und die Menschen glaubten ihm einfach alles. Dass er der städtische Kammerjäger sei, und dafür Sorge zu tragen hätte, dass die Schulküche so sauber wie ihr Ruf bliebe, reichten bereits als Eintrittskarte aus. Nun war er da, und niemand nahm weiter Notiz von ihm. In einer halben Stunde würden etwa dreihundert hungrige und behinderte Kinder in die Mensa einfallen, bereit, die gesamten Vorräte zu vertilgen. Rollstuhlfahrende Kinder, oder Kinder, die auf Krücken gingen, unterschieden sich in ihrem Appetit nicht von ihren gesunden Altersgenossen. Auch sie wollten essen. Und zwar viel und gut. Gut bedeutete in ihrem Fall Pizza oder Spaghetti. Und heute war Donnerstag, der bei den Kindern aber nur Pizzatag hieß. Denn die Pizza am Donnerstag war an dieser Schule eine alte Tradition, die weit in die Neunziger zurückreichte. Es hätte eine Revolution, eine Rollstuhldemo, einen Aufstand gegeben, hätte das Küchenpersonal es gewagt, von dieser Tradition abzuweichen. Vor ein paar Jahren hatte die Zulieferfirma einmal einen Lieferengpass überstehen müssen, und die Donnerstagpizza hatte ausfallen müssen. Stattdessen hatte man sich dazu entschieden, Waffeln mit heißen Kirschen und Schlagsahne zu kredenzen. Noch Wochen später hatte die Schulleitung die wütenden Proteste und Drohungen von den aufgebrachten Eltern entgegennehmen müssen, die tatsächlich befürchtet hatten, ihre Kinder würden nicht gleichberechtigt behandelt werden. Die Schulleitung hatte zwar letztendlich diese Vorwürfe entkräften können, wies das Küchenpersonal jedoch an, dafür Sorge zu tragen, dass sich immer genügend Ersatzportionen der heissgeliebten italienischen Fladen im Tiefkühlraum befanden.

    Also herrschte auch heute wieder eine große Aufregung, der Countdown zur Raubtierfütterung lief auf Hochtouren. Niemand störte sich an Jesus` Anwesenheit, keiner fragte ihn nach dem Inhalt der Tüte, die er unter seinen Arm geklemmt hatte. Jetzt musste er eigentlich nur noch den richtigen Moment abpassen, dann konnte er sein Werk vollenden. Er hatte die Schule wochenlang beobachtet, hatte die Schüler und Lehrer genau studiert. Hier befand sich eines der Hauptnester der Ratten, das stand für ihn schon sehr bald fest. Genau wie sein

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