Gnadenlose Gedanken (German Edition)
irgendjemand würde ihn zufällig hören und ihn befreien. Oder wenigstens Hilfe alarmieren. Jemand, der ihn dann abschnitt und ihn wieder auf die Füße stellte. Er hätte gerne einmal wieder für ein paar Minuten das Gefühl gespürt, wie es war, Blut in den Beinen zu haben. Musste toll sein, es war allerdings zu lange her, als dass er sich genauer hätte erinnern können. Viel länger durften diese ganz besonderen Umstände aber nicht mehr andauern, fürchtete er. Denn sonst würde er tatsächlich sein letztes bisschen Bewusstsein verlieren, und erst als toter Mann wieder zu sich kommen.
Die letzten Minuten hatte er damit verbracht, mit dem Seil hin und her zu schwingen. Er wusste nicht genau, was er sich davon erhoffte. Vielleicht würde der Haken nachgeben, an dem das Seil befestigt war. Oder das Seil selber würde unter der Belastung reißen, immerhin bot er doch ein ziemliches Gewicht auf.
Hauptsächlich machte er es aber wohl aus purer Lageweile. Er hing da jetzt seit Stunden, und die einzige Abwechslung, die ihn erhellt hatte, war eine Maus gewesen, die kurz seinen Blickwinkel gestreift hatte, um dann doch sicherheitshalber diesen verdächtigen Ort wieder zu verlassen.
Also schwang er sich durch die Gegend, in der Hoffnung,
irgend etwas
würde sich dadurch verändern. Außer, dass sich das verbliebene Blut in seinem Kopf wie in Beton gegossen anfühlte, konnte er aber keine besondere Wirkung bemerken, und er stellte seine sportlichen Bemühungen wieder ein. Er pendelte langsam aus, wie eine Kirchenglocke, die zur Andacht gebeten hatte, und nun verstummt war.
Ihm ging es langsam auf die Nerven. Wie konnten diese ekelhaften Fledermäuse in dieser Haltung nur schlafen? Unvorstellbar! Er konnte auf jeden Fall so nicht weiterleben, also beschloss er zu sterben.
Aber das war auch nicht so einfach, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Nachdem er sich endlich dazu durchgerungen hatte, hing er immer noch genauso träge, aber lebendig da, wie vorher. Er hing da wie ein totes Stück Fleisch, war es aber noch nicht. Und er hatte auch keine Ahnung, wie er dazu werden könnte. Nicht die leiseste. Also musste er weiter hier abhängen. Hängen, bluten, und auf seinen neuen Chef warten.
20
Zu der gleichen Zeit, in der Laschek auf seinen Erlöser (oder Vernichter) wartete, saß mein Vater in Lascheks Büro, und ärgerte sich über die Unpünktlichkeit des Kommissars. Sie hatten zwar keinen exakten Termin vereinbart, aber er war ein vielbeschäftigter Mann, und er konnte seine Zeit durchaus sinnvoller verbringen, als sie vor dem verwaisten Schreibtisch dieses merkwürdigen Polizisten abzusitzen.
Dass meine Mutter ihm dabei Gesellschaft leistete, machte die Wartezeit auch nicht unbedingt kürzer. Sie hatte darauf bestanden mitzukommen, und mein Vater hatte ihr leichtsinnigerweise nachgegeben.
Nun saßen sie da bereits seit über zwei Stunden, und kein Mensch kümmerte sich um sie. Man hatte ihnen versichert, dass Laschek ganz bestimmt kommen würde, er könne es nie längere Zeit ohne sein Büro aushalten. Diese etwas unpräzise Zeitangabe und dieser merkwürdige Humor hatten seine Aversionen gegen Polizisten noch verstärkt. Es war in seinem Beruf unumgänglich, mit den Beamten auskommen zu müssen, aber einfach war es selten. Zu sehr verabscheute mein Vater ihre Tätigkeit, er ekelte sich regelrecht vor ihnen. Zwar bekam er es früher oder später mit der gleichen Klientel zu tun wie sie, aber halt meistens zum Glück später. Dann erschienen ihm diese Leute wie desinfiziert. Nach ein paar Stunden auf dem Polizeipräsidium verloren die meisten Kriminellen ihr Selbstbewusstsein, und damit auch ihre angeborene Überheblichkeit. Die meisten dachten, mit etwas Geld und einem durchschnittlich begabten Anwalt, könnten sie sich durchaus bei einem ihrer nicht ganz legalen Geschäften erwischen lassen; viel Ärger würde ihnen das nicht unbedingt einhandeln. Meistens stimmte dies ja auch, in den häufigsten Fällen bedeutete es lediglich ein paar Stunden Einnahmeverluste, die aber nach der Freilassung durch doppelte Anstrengungen schnell wieder reingeholt wurden.
Aber dennoch veränderte sie ein kleiner Aufenthalt vor so einem Schreibtisch, wie ihn mein Vater jetzt vor sich stehen sah. Die halbleeren Kaffeetassen, die Telefone, die achtlos weggelegten Aktenordner; das alles erzeugte den Eindruck von enormer Wichtigkeit. Das war natürlich Blödsinn, Polizeibeamte waren genauso dämlich, wie andere Beamte auch.
Aber
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