Gnadentod
empfundene Zurückweisung?
Becky, die zu mager wurde, mit einer Therapie anfing, bei Stacy Therapeutin zu spielen versuchte und ihr dann die kalte Schulter zeigte.
Eric, der Allison den Laufpass gegeben hatte. Noch eine Zurückweisung?
Bob Manitow, der darunter litt, dass man seiner Tochter das Herz gebrochen hatte? Nein, es musste mehr dahinter stecken. Außerdem teilte seine Frau seinen Zorn gegenüber den Problemen der Familie Doss offenbar nicht. Judy hatte Stacy an mich verwiesen, weil sie sich Sorgen um das Mädchen machte … Handelte es sich nur um einen weiteren Fall von männlicher Ungeduld gegen weibliches Einfühlungsvermögen? Oder war Bobs Einfühlungsvermögen zerstört worden durch seine Unfähigkeit, Joanne herauszureißen aus etwas, das er als »nichts weiter als eine Depression« betrachtete? Manchmal werden Ärzte wütend bei psychosomatischen Krankheiten … vielleicht hatte er aber auch einfach nur einen wirklich schlechten Tag.
Plötzlich fiel mir Stacys Geschichte wieder ein, wie Bob voller Widerwillen zugesehen hatte, wie Richard und Joanne sich im Pool gegenseitig befummelt hatten.
Ein prüder Mann, der beleidigt worden war? Vielleicht war sein Ärger darüber, sich mit den Sorgen der Dosses befassen zu müssen, auch auf emotionale Prüderie zurückzuführen? Das hatte ich sehr oft an Menschen beobachtet, die vor ihrer eigenen Verzweiflung davonliefen.
Es hatte keinen Sinn, wilde Vermutungen anzustellen, es ging nicht um die Manitows; ich hatte zugelassen, dass Bob Manitows Zorn mich zu sehr von meinem eigentlichen Ziel ablenkte. Und dennoch, seine Reaktion war derart heftig gewesen - so unverhältnismäßig -, dass es mir nicht gelang, sie einfach zu ignorieren, und während ich auf Eric wartete, wanderten meine Gedanken immer wieder zu Judy zurück.
Die spindeldürre Judy in ihrem Richterzimmer. Makelloses Büro, makellose Insassin. Braun gebrannt, straffe Haut, kräftiger Knochenbau, gut aussehend. Sie hängte ihre Robe auf einen stummen Diener aus Holz, sodass das eng anliegende Kostüm von St. John Knits darunter zum Vorschein kam.
In diesem Zimmer hätte man jederzeit einen Fototermin abhalten können: polierte Möbel, frische Blumen in Kristallvasen, weiches Licht, konvexe Linien. Nicht das geringste Anzeichen, dass die Wut und die Langeweile des Superior Court unmittelbar hinter der Tür lauerten.
Und dann diese Familienfotos. Zwei geschmeidige blonde Mädchen mit der gleichen starkknochigen Schönheit. Beide jedoch mager, sehr mager. Dad im Hintergrund … Hatte einer von ihnen für die Kamera gelächelt? Ich konnte mich nicht erinnern, war mir aber ziemlich sicher, dass Bob nicht gelächelt hatte.
Eine dürre Mom und zwei dürre Töchter, wobei Becky es entschieden zu weit getrieben hatte. Manifestierte sich Judys Aufmerksamkeit für Details als Druck auf ihre Töchter, tadellos auszusehen, zu klingen, zu handeln, zu sein? Hatten die Dosses und ihre Probleme sich irgendwie mit ihren Nachbarn verstrickt?
Vielleicht gab ich mich diesen Spekulationen hin, weil die Familie weitaus weniger unangenehm war als die Akte, die ich mit nach Hause genommen hatte. Geometrie.
Endlich leuchtete das rote Licht auf.
Richard und Stacy waren an der Seitentür, und Eric stand zwischen ihnen.
Richard in seinem üblichen Aufzug, schwarzes Hemd und schwarze Hose, das kleine silberne Mobiltelefon in einer Hand. Er sah ein bisschen mitgenommen aus. Stacy trug ihre Haare offen und hatte ein ärmelloses weißes Kleid und weiße flache Schuhe an, sodass ich unwillkürlich an ein Mädchen in der Kirche denken musste.
Eric sah aus, als würde ihn das Ganze anwidern. Sein Vater und seine Schwester hatten auf eine Weise über ihn gesprochen, die eine ungeheure Ausstrahlung suggerierte. Aber was seine Statur betraf, hatte die Doss-DNS nicht nachgegeben. Er war nicht größer als Richard und vielleicht fünf Kilo leichter. Sein Rücken war leicht gekrümmt, als trüge er schwer an seiner Niedergeschlagenheit. Seine Hände und Füße waren klein.
Ein zerbrechlich wirkender Junge mit riesigen schwarzen Augen, einer zarten Nase und einem weichen, geschwungenen Mund. Sein Gesicht war voller als das von Stacy, wies aber denselben koboldartigen Schnitt auf. Seine Haut war kupferfarben und sein schwarzes Haar so kurz geschnitten, dass die Locken kaum mehr als ein Flaum waren. Sein Cambrai-Hemd war übergroß und bauschte sich über dem durchhängenden Bund seiner ausgebeulten Khakihose, die so zerknittert
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