Gnadentod
Telefonservice an.
Richard Doss’ Sekretärin hatte angerufen, um mir Bescheid zu sagen, dass Eric eine halbe Stunde vor seinem Termin um sechzehn Uhr bei mir sein würde. Der Junge war von Dr. Robert Manitow untersucht worden; falls ich Zeit hätte, sollte ich bitte den Doktor anrufen.
Sie hatte Manitows Nummer angegeben, die ich nun eintippte. Seine Sprechstundenhilfe klang angespannt, und mein Name schien ihr nichts zu sagen. Sie ließ mich lange warten. Keine Musik. Gut.
Ich hatte Bob nie kennen gelernt und nie mit ihm geredet, sondern hatte ihn nur auf den silbergerahmten Familienfotos gesehen, die auf der geschnitzten Anrichte in Judys Richterzimmer standen.
Eine abgehackte Stimme sagte: »Dr. Manitow. Mit wem spreche ich?«
»Dr. Delaware.«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er kurz angebunden. Hatte seine Frau nie erwähnt, dass wir zusammengearbeitet hatten?
»Ich bin Psychologe -«
»Ich weiß, wer Sie sind. Eric ist auf dem Weg zu Ihnen.«
»Wie geht es ihm in physischer Hinsicht?«
»Es geht ihm prima. Es war Ihre Idee, dass ich ihn untersuchen sollte, oder nicht?« Der anklagende Tonfall war nicht zu überhören.
Ich sagte: »Ich hielt es für eine gute Idee, angesichts dessen, was er durchgemacht hat.«
»Und was genau soll er durchgemacht haben?«
»Abgesehen von den Langzeitwirkungen durch den Verlust seiner Mutter war sein Benehmen ungewöhnlich, seinem Vater zufolge. Ohne Erklärung zu verschwinden, die Weigerung zu reden -«
»Er redet doch«, sagte Manitow. »Er hat gerade mit mir gesprochen und mir erzählt, diese ganze Geschichte sei Blödsinn, und ich pflichte ihm von ganzem Herzen bei. Er ist ein College -Student, Herrgottnochmal. Die gehen von zu Hause weg und machen alle möglichen verrückten Sachen - haben Sie das nie getan?«
»Sein Mitbewohner war so besorgt, dass er -«
»Dann hat der Junge eben ein einziges Mal beschlossen, nicht perfekt zu sein. Gerade von Ihnen hätte ich gedacht, dass Sie sich den Ursprung ansehen, bevor Sie sich in diese ganze Hysterie hineinziehen lassen.«
»Den Ursprung?«
»Richard«, sagte er. »Alles in Richards Leben ist eine große gottverdammte Inszenierung. Die ganze Familie ist so - nichts ist beiläufig, alles ist eine große gottverdammte Affäre.«
»Sie wollen sagen, sie dramatisieren -«
»Tun Sie das nicht«, sagte er. »Werfen Sie mir meine Worte nicht wieder entgegen, als läge ich auf der Couch. Zum Teufel ja, natürlich dramatisieren sie alles. Als sie dieses Haus für sich gebaut haben, hätten sie auch gleich ein Amphitheater daneben stellen sollen.«
»Ich bin sicher, Sie kennen sie gut«, sagte ich, »aber wenn man bedenkt, was mit Joanne geschehen -«
»Was mit Joanne geschehen ist, war für diese armen Kinder die reine Hölle. Aber die Wahrheit ist, sie war psychisch verkorkst. Schlicht und einfach. Nicht das geringste verdammte bisschen war mit ihr nicht in Ordnung, außer dass sie beschlossen hatte, aus dem Leben auszusteigen und sich zu Tode zu essen. Sie hat ihren gesunden Menschenverstand abgelegt. Deshalb hat sie diesen Quacksalber angerufen, um die Sache zu einem Ende zu bringen. Nichts weiter als eine Depression. Ich bin kein Seelenklempner, und trotzdem bin ich zu dieser Diagnose gekommen. Ich habe ihr geraten, zu einem Psychiater zu gehen, aber sie hat sich geweigert. Wenn Richard gleich auf mich gehört hätte und sie hätte einweisen lassen, dann hätte man sie auf ein gutes Antidepressivum setzen können, und sie wäre vielleicht noch am Leben und den Kindern wäre diese ganze Scheiße erspart geblieben, die sie durchgemacht haben.«
Er redete nicht laut, aber plötzlich fiel mir auf, dass ich den Hörer von meinem Ohr weghielt.
Er sagte: »Viel Glück mit dem Jungen. Ich muss jetzt los.«
Er legte auf. Sein Zorn hing noch immer in der Luft, bitter wie Septembersmog.
Als ich gestern Stacys Schmerz gespürt hatte, während wir am Strand entlanggingen, hatte ich beschlossen, Judy nicht anzurufen. Stattdessen hatte ich mich gefragt, welche Verbindung zwischen den beiden Familien bestand, etwas, das über Schwangerschaftskurse, Tennisclubs und Laura-Ashley-Schlafzimmer hinausging. Doch nun erregte etwas ganz anderes meine Neugier.
Ihr Eric, meine Allison, dann Stacy und Becky …
Becky mit ihren Problemen in der Schule - bekommt Nachhilfestunden von Joanne, sackt dann wieder auf eine Vier ab, als Joanne sich nicht mehr mit ihr treffen kann … War Bobs Zorn die Reaktion auf eine als Kränkung
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