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Gnadentod

Gnadentod

Titel: Gnadentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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war wie ein gebrauchtes Kleenex. Die Hosenaufschläge ruhten in Ziehharmonikafalten auf seinen Sportschuhen, die mit getrocknetem grauen Schlamm überkrustet waren. Spärliche Bartstoppeln verteilten sich auf Kinn und Wangen.
    Er sah überall hin, nur nicht auf mich. Die Finger krümmten sich an seinen Oberschenkeln. Seine Fingernägel waren schwarz und eingerissen, als hätte er sie in die Erde gekrallt. Sein Vater hatte nicht versucht, ihn zu säubern. Oder vielleicht hatte er es versucht, und Eric hatte sich widersetzt.
    »Eric? Dr. Delaware«, sagte ich und streckte die Hand aus. Er ignorierte sie und starrte stattdessen zu Boden. Die Finge krümmten und streckten sich.
    Gut aussehender Junge. In gewissen süßen Collegenächten würden sich Mädchen, die den grübelnden, sensiblen Typ attraktiv fanden, durchaus zu ihm hingezogen fühlen.
    In dem Augenblick, als ich meine Hand zurückziehen wollte, ergriff er sie. Seine Haut war kalt und feucht. Als er sich seinem Vater zuwandte, zog er eine Grimasse, die aussah, als wollte er sich gegen große Schmerzen wappnen.
    Ich sagte: »Richard, Sie und Stacy können hier draußen warten oder in den Garten gehen. Kommen Sie in etwa einer Stunde zurück.«
    »Mit mir brauchen Sie nicht zu reden?«, sagte Richard.
    »Später.«
    Er schien drauf und dran, zu einer scharfen Erwiderung anzusetzen, überlegte es sich jedoch anders. »Okay, wie wär’s, wenn wir einen Kaffee trinken gehen oder so was, Stace? In einer Stunde können wir es bis Westwood und wieder zurück schaffen.«
    »Klar, Daddy.«
    Stacy und ich tauschten einen kurzen Blick. Sie nickte fast unmerklich, um mir zu verstehen zu geben, dass es in Ordnung war, wenn ich mit ihrem Bruder sprach. Ich nickte zurück. Die beiden gingen, ich schloss die Tür hinter Eric und mir und sagte: »Hier entlang.«
    Er folgte mir in das Büro und blieb in der Mitte des Raums stehen.
    »Machen Sie es sich bequem«, sagte ich. »Oder zumindest so bequem, wie es Ihnen möglich ist.«
    Er ging zum nächsten Sessel und ließ sich langsam darauf nieder.
    »Ich kann verstehen, dass Sie nicht hier sein wollen, Eric. Wenn Sie also - »Nein, ich will hier sein.« Die Stimme eines hoch gewachsenen Mannes strömte aus dem Kussmund. Richards Bariton, was sogar noch unpassender wirkte. »Ich hab’s verdient, hier zu sein. Ich bin abgerückt.« Er fingerte an einem Hemdenknopf herum. »Das ist absurd, nicht wahr?«, sagte er. »Die Art, wie ich es gerade formuliert habe. Die Art, wie abfällig wir das Wort >fuck< benutzen. Bezeichnet angeblich die schönste Sache der Welt, und wir benutzen es auf diese Weise.« Ein schwaches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Zurückscrollen und ersetzen: Ich bin dysfunktional. Jetzt sollten Sie fragen, inwiefern.«
    »Inwiefern?«
    »Ist das nicht Ihr Job, das herauszufinden?«
    »Jep«, sagte ich.
    »Praktisch, Ihr Job«, sagte er und sah sich im Büro um. »Sie brauchen keinerlei Ausrüstung, nur Ihre Psyche und die Ihres Patienten, die sich gegenseitig in der großen affektiven Leere begegnen und auf einen Einsicht spendenden Zusammenstoß hoffen.« Kurzes Lächeln. »Wie Sie sehen können, habe ich einen Psycho-Einführungskurs besucht.«
    »Hat es Ihnen gefallen?«
    »Nette Erholung von der kalten, grausamen Welt von Angebot und Nachfrage. Eine Sache hat mich allerdings erstaunt. Ihr Jungs legt so viel Wert auf Funktion und Funktionsstörung, schenkt aber Schuld und Sühne überhaupt keine Beachtung.«
    »Ist das zu wertfrei für Sie?«, fragte ich.
    »Zu unvollständig. Schuld ist eine Tugend - vielleicht die wichtigste überhaupt. Denken Sie mal darüber nach: Was sonst sollte uns Zweibeiner dazu motivieren, dass wir uns mit angemessener Zurückhaltung benehmen? Was sonst bewahrt die menschliche Gesellschaft davor, in massenhafte, entropische Abgefucktheit abzustürzen?«
    Er schlug das linke Bein über das rechte, und seine Schultern lockerten sich. Starke Worte zu benutzen, entspannte ihn offenbar. Ich stellte mir vor, wie seine ersten, frühreifen Äußerungen zunächst Erstaunen hervorriefen, die dann jedoch sofort in Begeisterung umschlug. Die Errungenschaften häuften sich, die Erwartungen wurden übertroffen.
    Ich sagte: »Schuld als Tugend.«
    »Welche andere Tugend gibt es denn? Was sonst sorgt dafür, dass wir zivilisiert bleiben? Angenommen, wir sind zivilisiert. Was entschieden zur Debatte steht.«
    »Es gibt verschiedene Stufen der Zivilisation«, sagte ich.
    Er lächelte.

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