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Gnosis

Gnosis

Titel: Gnosis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Fawer
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versuchte, Elijah beruhigende Gedanken einzugeben, während er sich wie im Todeskampf an sie klammerte. Je weiter sie vorandrängten, desto dichter standen die Menschen. Sie sah zu der riesigen Neonuhr auf, die über der Bühne leuchtete.
    Es blieb nicht mehr viel Zeit. Vielleicht käme sie schneller voran, wenn sie ihre Kette abnehmen und den Leuten befehlen würde, Platz zu machen, aber das brachte sie nicht fertig. Zwar redete sie sich ein, sie müsste ihre Kräfte schonen, aber eigentlich wusste sie, dass es einen entscheidenderen Grund gab.
    Sie hatte Angst.
    Was wäre, wenn sie jemanden tötete? Was wäre, wenn sie nicht Gelassenheit aussendete, sondern die schreckliche Angst, die sie quälte? Was wäre dann? Würde es zu einer Massenhysterie kommen? Oder Schlimmeres?
    Sie schüttelte den Kopf. Sie musste da rauf, die Menge bearbeiten und hoffen und beten, dass sie nicht durchdrehten. Sie sah noch einmal zur Uhr. Zwei Minuten waren vergangen, und sie waren kaum drei Meter vorangekommen. Sie fasste allen Mut und drehte sich zu Elijah um.
    «Ich muss loslassen!», schrie sie ihm ins Ohr. «Kommst du zurecht?»
    Sie spürte, dass Elijahs Panik wie ein Kugelblitz in seinem Kopf aufleuchtete, doch er biss sich nur auf die Unterlippe und nickte. Ohne darüber nachdenken, beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange. Als ihre Lippen seine Haut berührten, erklang ein wunderschöner, warmer Ton in ihr. Dann machte sie sich los, und er verschwand vor ihrem inneren Auge.
    Sie atmete tief durch, nahm ihre Kette ab und steckte sie in die Tasche. Augenblicklich explodierten Tausende Melodien in ihrem Kopf. Verworrene Rhythmen, brüllende Akkorde, grausame Dissonanzen, kristallklare Fistelstimmen in höchsten Tönen.
    Einen Moment überlegte sie, ob es sich wohl für Elijah ähnlich anfühlte. Aber das konnte ja nicht sein. Zwar hörte sie all die unterschiedlichen Klänge deutlich, aber es war auszuhalten. Es haute sie nicht so um wie Elijah.
    Ohne Zeit zu verlieren, schrie sie: «Das ist ein Notfall! Aus dem Weg!», und projizierte gleichzeitig kindlichen Gehorsam. Instinktiv trat die Menge beiseite und bildete für Winter und Elijah eine Gasse. Sie schluckte und ging hindurch.
    «Machen Sie Platz! Bitte, ich muss zur Bühne!»
    Und die Leute bewegten sich, als wären sie Winters Marionetten. Sie war richtig stolz auf sich. Sie konnte es schaffen. Mit der psychischen Energie der Menge im Rücken besaß sie ungeheure Macht. Dann hörte sie etwas, drüben von der Bühne.
    Etwas, bei dem ihr das Herz aussetzte.
     
    Hinter der Bühne sah Valentinus zu, wie der knackige Teeniestar sich mit den Händen über ihren festen, kleinen Leib fuhr. Etwas in ihm – das Unvollkommene, Menschliche – wünschte, ihm bliebe noch Zeit für irdischere Vergnügungen.
    Er verfluchte sich, schüttelte die leise Lust ab und machte sich bereit. Sein Puls ging schneller, als er daran dachte, welch ein Geschenk die zahllosen Geister waren, wenn sie erst schrien, vor Todesangst und Schmerz und Ekstase. Schon jetzt leuchteten ihre Farben wie ein majestätisches Kaleidoskop. Und hatten sich seine Jünger erst die Spritze gesetzt, würde seine Vision vom Untergang der Heuchler endlich Wahrheit werden.
    Er kniff die Augen zusammen und atmete tief und bebend. Nur noch wenige Minuten. Er schlug die Augen auf und sah in die Menge. Doch was er diesmal sah, ließ ihm den Atem stocken. Dort – mitten in der wogenden Masse – war eine Frau, die sich nicht wie die anderen bewegte.
    Sie leuchtete – ein weißlich blaues Licht, das mit solcher Intensität erstrahlte, dass er das ganze Farbenspektrum darin sah. Seit Laszlo hatte er nie wieder einen solchen Menschen gesehen.
    Und dann wusste er: Es war Winter, der letzte Archon. Doch ob sie gekommen war, um sich ihm anzuschließen, oder ob der Schöpfergott sie schickte, um ihn heute Abend aufzuhalten, das konnte er noch nicht sagen. Traf Ersteres zu, wollte er sie willkommen heißen. Wenn nicht, dann würde er ihr Innerstes in Fetzen reißen.
    Ohne zu zögern.
     
    Winter sah, wie Valentinus aus dem Dunkel trat. Nur wenige bemerkten ihn, denn nur die Leute in den ersten Reihen standen nah genug, um ihn zu erkennen. Winter schaffte es nicht, sich abzuwenden. Es ging ein solches Leuchten von ihm aus, dass sie sich fühlte, als hätte sie Mozart persönlich vor sich.
    In seinem Geist hörte sie die vollkommensten Melodien. Lebhaftes Allegro, gemächliches Adagio, anmutiges Grazioso, explosives Sforzando,

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