Gnosis
Energie der Menge, und er konnte die Aura der Gnostiker sehen – sie alle standen in demselben himmelblauen Licht.
Fast beängstigender noch als die Gnostiker waren die anderen, die gekommen waren, als sie am Abend von Valentinus’ Plänen erfahren hatten. Die meisten waren wohl bibeltreue Christen. Sie standen beieinander wie die Gnostiker, und ihre Aura schwankte zwischen nervöser grüner Furcht und knisternder rosiger Erregung.
Sie hielten handgeschriebene Schilder hoch, auf denen stand Tut es nicht! Jesus wird euch retten! oder Selbstmord ist keine Lösung. Manche hielten Kerzen und sangen Kirchenlieder, während sich andere unter die Leute mischten und Flugblätter verteilten, auf denen christliche Tugenden gepriesen wurden.
Schließlich waren da noch Polizei und Militär. Während Erstere einen wütenden und durchgefrorenen Eindruck machten, sahen Letztere diszipliniert und bedrohlich aus – besonders mit den Colt-M4s, die sie sich umgeschnallt hatten. Obwohl sie mitten in der Großstadt waren, trugen sie olivgrüne Tarnanzüge. In Zweier- und Vierergruppen patrouillierten sie durch die Menge und hinterließen eine Spur von faulig gelbem Unbehagen.
Nachdem er mit den Zähnen seinen linken Handschuh ausgezogen hatte, griff er nach der Kette um seinen Hals. Das Metall war unangenehm auf seiner kalten Haut. Wie froh war er, dass die Kette noch da war. Der bloße Gedanke daran, den entfesselten Emotionen der Menge schutzlos ausgeliefert zu sein, trieb ihn fast in den Wahnsinn.
Da sie Elijahs Angst spürte, drückte Winter seine Hand noch fester und sendete ihm rosige Gelassenheit. Damit ließ sich die Angst zwar nicht vertreiben, doch wurde sie ein wenig erträglicher. Elijah sah sie an, mit einem Mal überwältigt von ihrer Schönheit.
Wortlos nahm Winter ihre Kette ab und gab sie ihm. Dann stützte sie sich auf seiner Schulter ab und stieg auf einen Zeitungskasten, um die Menge zu überblicken. Vorsichtig wollte sie ihre Hand von ihm losmachen, doch Elijah hielt sich verzweifelt daran fest.
«‘t-t-tschuldigung», sagte er, als er merkte, dass er sie behinderte.
Er holte tief Luft, biss die Zähne zusammen, machte die Augen fest zu und ließ los. Im selben Moment heulte sein Innerstes vor Entsetzen, kreischte und jaulte, drückte gegen seine Brust und seinen Schädel, presste die Luft aus seinen Lungen …
Und plötzlich, ganz kurz, fast unmerklich, hielten alle inne. Es war viel zu laut, als dass man den Moment der Stille hätte wahrnehmen können, doch Elijah spürte ihn. Eine Millisekunde lang stutzten alle gleichzeitig und spitzten die Ohren.
Irgendetwas war passiert. Und dieses Etwas war Winter. Sie hatte den Umstehenden Besonnenheit eingegeben, und dieses Gefühl breitete sich aus.
Abrupt war das Gefühl verflogen, und das Entsetzen kehrte zurück, stärker als …
Sie nahm ihn wieder bei der Hand. Es fühlte sich an, als stiege er in eine heiße Wanne. Bebend atmete er ein und schlug die Augen auf.
«G-g-glaubst du, du kannst es schaffen?»
«Ich weiß nicht», sagte Winter. «Wenn ich zu allen sprechen könnte … dann vielleicht. Aber es sind so viele, und ihre Empfindungen sind schon jetzt so stark.»
In diesem Moment beendete das blonde Starlet ihren letzten kreischenden Ton, und hysterischer Applaus brandete auf. Elijah verzog das Gesicht.
«VIELEN DANK!», schrie das Sternchen. «NEW YORK – ICH LIEBE EUCH!!!»
Die Menge brüllte zur Antwort, und Elijah schnappte nach Luft. Plötzlich hatte er eine Eingebung.
«Warte hier», sagte er und ließ ihre Hand los. Er fuhr herum, riss die Tür des Lieferwagens auf und beugte sich hinein. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er gefunden hatte, was er suchte. Als Winter sah, was er in der Hand hielt, staunte sie nicht schlecht.
«Meinst du, das hilft?», fragte Elijah.
«Ja», flüsterte Winter und nahm ihm ab, was er aus dem Auto geholt hatte. Dann reichte sie ihm die Hand.
«Bist du bereit?», fragte Winter.
«Nein.»
«Ich auch nicht», sagte Winter. «Gehen wir.»
Hand in Hand drängten sie sich in die Menge.
KAPITEL 20
31. DEZEMBER 2007 – 23:49 UHR (11 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
Winters Ohren brannten, und ihr Gesicht war eisig kalt, obwohl sie schwitzte. Sie schob sich durch die Menge. Man kam kaum vorwärts. Sie wusste, dass die Angst, die in ihr heranwuchs, Elijahs war, nicht ihre, doch deshalb war sie nicht weniger bedrückend.
Winter schluckte ihre (gemeinsame) Furcht herunter und
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