Gnosis
Valentinus sie von sich. Es war unerträglich, dass er sie nicht mehr berührte. Als würde man von einem sonnigen Strand direkt ins Eismeer gestoßen. Winter schnappte nach Luft. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, als könnte sie sich dem verweigern, was geschah.
Doch er ließ sie nicht mehr an sich heran. Sie war ohne ihn. Ihr war kalt, so schrecklich kalt.
Sie stürzte auf ihn zu, sie wollte zurückhaben, was sie verloren hatte, doch bevor sie seine Haut berühren konnte, packte er ihre Arme und hielt sie auf Abstand.
«Du musst es mir sagen, du dumme Gans!», schrie er sie an. «Na, los!»
«Das Signal! Wir haben die Handytürme ausgeschaltet … ich meine, ich weiß nicht … ich glaube, Stevie …» Winter redete einfach weiter, aber es war ihr egal. Wichtig war nur, dass sie ihn wieder berühren durfte.
«Es tut mir leid, ich wusste ja nicht …» Ihre Stimme brach, und Tränen liefen über ihre Wangen, als sie auf die Knie sank.
Er zerrte sie über die Bühne hinter einen der großen Lautsprecher. Sobald sie von der Menge nicht mehr zu sehen waren, schlug er ihr ins Gesicht. Im selben Moment, als seine Finger ihr Gesicht berührten, war sie wieder mit ihm verbunden – doch nun war aus der sanften Wärme glühende Hitze geworden, die ihr die Haut versengte.
«Du falsche Schlange!»
Wieder schlug er zu, und sie fiel hin. Instinktiv achtete sie darauf, nicht zu zerbrechen, was Elijah ihr gegeben hatte.
Valentinus holte mit dem Fuß aus und trat zu. Ihre Rippen knackten.
«Du mieses Stück!»
Er trat noch einmal zu. Diesmal traf er sie an der Stirn, mit solcher Wucht, dass sie hinfiel. Sie landete auf dem Rücken und spürte das warme, klebrige Blut, das aus der Wunde über ihrem Auge lief.
«Es tut mir leid!», heulte Winter. «Es bleibt ja nicht so! Nur ein paar Minuten! Dann arbeiten sie wieder!»
Valentinus wollte gerade noch einmal zutreten. Er hielt inne. «Dann muss ich die Leute etwas länger antreiben, als ich dachte. Und du wirst mir dabei helfen. Steh auf!»
Er riss sie an den Haaren hoch, und Winter kam mit Mühe auf die Beine. Plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Durch den Schmerz konnte sie sich wieder konzentrieren. Instinktiv holte sie aus und schlug Valentinus ihre Faust ans Kinn.
Wäre er ein ganz normaler Mensch gewesen, hätte sie ihn getroffen.
Leider war er kein normaler Mensch.
Er erkannte jede ihrer emotionalen Regungen, bevor sie sich ausdrückten. Valentinus fing ihre Faust ab. Während er Winters Hand festhielt, drangen euphorische Klänge in sie.
Er führte sie wieder auf die Bühne, und sie starrte erstaunt in die Menge. Die Stimmen sangen in ihrem Kopf: ein grandioser Gleichklang. Jeder Ton, jeder Akkord, jeder Laut – alles war unfassbar klangvoll und so beruhigend. Sie merkte, wie ihre Muskeln sich entspannten, wie alles von ihr abfiel.
Die Verzückung der Menge übertönte ihren körperlichen Schmerz. Die Aufregung war ein hoher Sopran, die Vorfreude ein tiefer, melodiöser Bariton, die Ekstase eine heitere Fuge. Winter atmete tief ein, und plötzlich summten ihre Nerven vor Vergnügen.
«Sorg dafür, dass die Barbie da drüben endlich Ruhe gibt!»
Ohne darüber nachzudenken, drang Winter in den Geist der blonden Sängerin ein, sie packte ihr Bewusstsein und hielt es fest. Abrupt hörte das Mädchen auf zu singen und drehte sich um.
Sie griff sich an die Brust und rang nach Luft. Winter fühlte, wie der Schmerz des Mädchens immer größer wurde, bis das Starlet auf der Bühne schließlich zusammenbrach. Winter sah stolz zu Valentinus hinunter.
«Jetzt sende, was ich fühle!»
Valentinus nahm sie bei der Hand, griff sich ein drahtloses Mikrophon und ging zur Mitte der Bühne.
«Ich bin Valentinus. Ich bin gekommen, um euch zu befreien!»
Winter hörte eine leichte, hoffnungsvolle Melodie, friedlich und versöhnlich, weiche, gebundene Harmonien, legato, und projizierte sie auf die Menge. Die Reaktion kam postwendend. Die Dissonanzen lösten sich auf, als sie die Klänge der Gnostiker in der Menge hören konnte.
«Aber ich kann nur denen helfen, die es wollen», sagte Valentinus beinahe bedauernd. «Also frage ich euch: Wollt ihr meine Hilfe?»
Valentinus empfand ekstatische Vorfreude. Wieder nahm Winter seine Empfindungen auf und bündelte sie. Und wieder fühlte/sah/hörte sie, wie 50.000 Gnostiker ihrem Lied antworteten.
Doch waren es nun nicht mehr nur seine Anhänger. Die beschwingten Klänge ihres Allegrettos wirkten auch auf die anderen:
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