Gnosis
erlebt das ganze Universum. Jeden Menschen. Jedes Tier. Jede Pflanze. Noch das geringste Leben.
Elijah blickt mit den Augen der Welt, und ihm wird die ganze Wahrheit bewusst …
Er blickt mit den Augen Gottes … denn Gott ist kein Monolith.
Wir sind Gott.
Elijah begreift, wie zutiefst unbedeutend der menschliche Wille im großen Mahlstrom des Lebens ist. Jeder Mensch ist nur ein winziger Teil Gottes, ohne eine Ahnung vom großen Ganzen, dem er dient. Ahnungslos wie eine Blutzelle, die durch eine Ader auf ein Ziel zurast, ohne die geringste Vorstellung von seiner Bedeutung im Zusammenspiel.
Das Yin und Yang des Universums ist klar.
Warum es im Licht auch Dunkel gibt. Warum das Böse immer das Gute zerstört.
Warum Gott das alles zulässt – warum wir das alles zulassen …
Weil wir es zulassen wollen. Jedes Lebewesen handelt in seinem eigenen Interesse, ein Sklave der nimmersatten Gier, die Gott uns gegeben hat – die wir uns selbst gegeben haben: um zu überleben, um uns fortzupflanzen. Ein ständiges Hin und Her, bei dem immer einige aufsteigen und andere abstürzen.
Der freie Wille wird einem nicht geschenkt. Man muss darum kämpfen. Man muss ihn sich nehmen.
Und genau das tut Elijah. Er greift danach.
Als Winter hört, was Elijah vorhat, folgt sie ihm.
Sie überträgt Mitgefühl auf die hundertneun Attentäter, sie versucht, Valentinus’ Hass zu verdrängen. Doch dann unterbricht sie die Verbindung, bevor die Attentäter hilf los zu Boden gehen.
Sie wählt einen anderen Weg.
Elijah und Winter geben Valentinus’ Attentätern etwas ein, was sie nie erlebt haben: Für eine halbe Sekunde befreien sie sie vom universalen Willen, sodass sie frei über ihr eigenes Schicksal entscheiden können.
Ganz für sich allein.
Solothurn sah, wie die blutige Klinge durch die Luft fuhr, auf den Kopf des Papstes zuhielt, als er plötzlich eine himmlische Melodie hörte, eine Melodie von wundersamer Klarheit, und da war er voller Liebe für den Mann, den er doch töten wollte.
Plötzlich fühlte er sich frei.
Da er schon zu weit ausgeholt hatte, konnte er die Axt nicht mehr in eine andere Richtung lenken, und er tat das einzig Mögliche – er ließ das Beil los. Der Griff der Hellebarde glitt ihm durch die Finger.
Papst Pius duckte sich und …
Unzählige Emotionen durchströmten Elijah und Winter.
Susan Collins’ Schock, als sie ihre blutigen Hände und die tote Frau zu ihren Füßen sah.
Masahiko Itos Reue, als er die blutige Wunde in Kardinal Peter Shojiro Hirayamas Schädel sah.
Jose Ignacio Climents glühende Hoffnung, als er seine Lippen auf den Mund von Kardinal Antonio de la Peña Pérez presste, um den Mann, den er eben erwürgt hatte, wiederzubeleben.
Kofi Oseis hämische Freude, als er wieder und wieder auf Kardinal Lucas Afrifah-Agyekum einstach, den er immer schon verachtet hatte.
Solothurn Pfyffer von Altishofens abgrundtiefe Erleichterung, als die Spitze seiner Hellebarde über den Kopf des Pontifex hinwegging und direkt neben ihm in die Wand schlug.
Da waren noch Tausende Emotionen mehr, unermesslich viele Farben und Töne. Nicht alle Kirchenmänner kamen mit dem Leben davon – sieben Kardinäle lagen tot oder sterbend zu Füßen ihrer Attentäter.
Denn obwohl alle Kardinäle erklärten, sie wandelten auf Gottes Wegen, traf das längst nicht auf alle zu. Wer es nicht tat, musste dafür bezahlen – und wurde gerichtet von einem Mann, der sich frei entschieden hatte.
Mit diesem Gedanken ließ Elijah von den bunten Geistern ab und taumelte wieder in sein eigenes Bewusstsein zurück. Er schlug die Augen auf, nahm Winters Gesicht sanft in beide Hände und küsste sie auf den Mund. Er schloss die Augen und gab sich dem Moment hin, und in schneeweißem Licht erklang eine helle Melodie.
KAPITEL 29
1. JANUAR 2008 – 5:43 UHR (5 STUNDEN, 43 MINUTEN NACH DER NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
Aus der New York Post
SELBSTMORDSEKTE: DRAMA AUF DEM TIMES SQUARE
Zwei Minuten vor dem Jahreswechsel verfiel Valentinus’ Selbstmordsekte auf dem Times Square dem Massenwahn.
Im selben Moment, als der aufstrebende Popstar Arianna einen Herzanfall erlitt (siehe Seite 5), betrat Valentinus die Bühne. Er befahl seinen Anhängern: «Tötet, um euch zu befreien!», woraufhin die Menge von geschätzten 1,1 Millionen Besuchern mit Bierflaschen, Messern und Knüppeln aufeinander losging.
Zwar waren Polizei und Nationalgarde vor Ort, um für Sicherheit zu sorgen, doch wurden
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