Gnosis
Christina in die Augen zu blicken, doch die Nonne wollte Jill nicht ansehen.
Der Priester sagte etwas zu der Nonne, dann wies er sie an, hinauszugehen. Und als sich Schwester Christina von ihm abwandte, sah Jill den blendend weißen Hass.
«Ich weiß nicht, was du mit mir gemacht hast», zischte Schwester Christina. «Aber Gott steh dir bei, Jill!»
Damit ging die Frau, die sie liebte, zur Tür hinaus und ließ Jill mit dem Priester zurück. Jill starrte den Mann in Schwarz an und merkte, dass alle seine Farben düster waren. Da wusste sie, dass es keine Erlösung geben würde.
Sie hatte ihre Macht verloren.
KAPITEL 4
«Radiowellen», sagte Laszlo Kuehl siegessicher und schrieb das Wort an die Tafel. «Erzählen Sie mir mal was darüber!»
«Radio Waves. Das war die erste Single von Roger Waters’ Radio K.A.O.S.», antwortete Winter Xu, und ein leises Lächeln flog über ihr kindliches Gesicht.
Laszlo lächelte. Das war das Problem, wenn man Hochbegabte unterrichtete – sie waren alle kleine Schlaumeier. Nicht dass er etwas dagegen gehabt hätte. Im Grunde ermutigte er sie ja dazu. Es gefiel ihm, sein Klassenzimmer als Freizone zu sehen, in der nichts verboten war. Er wusste, dass viele Hochbegabte geächtet wurden, weil sie schlauer waren als andere. Und auf keinen Fall wollte er ihnen bei intellektuellen Wortspielen Schranken auferlegen.
«Und was wissen Sie über Roger Waters, Miss Xu?»
Winter setzte sich auf ihrem Stuhl gerade hin und freute sich ganz offenbar, sich zu ihrem Lieblingsthema äußern zu dürfen – alles, was mit Musik zu tun hatte. Sie räusperte sich.
«Er hat 1964 zusammen mit Syd Barrett Pink Floyd gegründet. Ihr erstes Album war Piper at the Gates of Dawn, obwohl sie erst mit Dark Side of the Moon groß rauskamen. Dann ist Barrett abgedreht, und Waters hat Wish You Were Here für ihn geschrieben. Später veröffentlichten sie Animals, The Wall und The Final Cut. Danach verließ Waters die Band. Die übrigen Bandmitglieder veröffentlichten noch ein letztes Album – A Momentan Lapse of Reason, aber ohne Waters’ Texte war es irgendwie öde. ‹Drei minus› würde ich sagen.»
Laszlo war zufrieden. Die Klasse hörte zu. Er führte die Aufmerksamkeit zu 30 Prozent auf das Thema und zu 70 Prozent auf Winter zurück. Sie war von einer natürlichen Schönheit, mit reiner, heller Haut und langen Gliedmaßen, ohne schlaksig zu wirken. Winter Xu war ein Mädchen, dem die Menschen Beachtung schenkten.
«Und was ist Ihre Lieblingsplatte von Pink Floyd, Miss Xu?»
«Animals», sagte Winter, ohne zu zögern.
«Und sie basiert auf welchem Roman der klassischen Moderne?»
Winter blinzelte, überrascht, dass ihr musikalisches Wissen Lücken aufwies.
«Kennt jemand die Antwort? Bueller?»
Laszlo erntete ein paar Lacher für dieses Zitat aus Ferris macht blau und sah sich in der Klasse um, ob jemand seine Frage beantworten könnte. Aber er blickte nur in leere Gesichter. Also wandte er sich an den Schüler, auf den er sich immer verlassen konnte.
«Mr. Cohen. Können Sie Miss Xu weiterhelfen?»
Elijah Cohen machte sich auf seinem Stuhl so klein wie möglich. Seine beklemmende Schüchternheit tat Laszlo in der Seele weh, aber der Junge musste aus seinem Schneckenhaus gelockt werden. Von allen Schülern beeindruckte ihn Elijah am meisten. Eines Tages würde der ungelenke Junge bestimmt einmal sehr erfolgreich sein – auch wenn er selbst nicht daran glaubte.
«Das Album b-b-basiert auf Farm der Tiere von George Orwell.»
«Sehr gut. Erläutern Sie das bitte.»
Elijah wurde rot und trug stotternd vor, was er zu sagen hatte, während er auf sein zerkratztes Pult starrte.
«Na ja, genau wie im B-b-buch wird die Menschheit von Tieren dargestellt. Auf der Platte gibt es drei Arten – Hunde, Schweine und Schafe. Hunde stehen für geldgierige Geschäftsleute. Schweine sind korrupte Politiker. Und die Schafe symbolisieren alle anderen – das Volk.»
«Ausgezeichnet», sagte Laszlo und faltete die Hände hinter seinem Rücken. «Nun haben wir alle etwas aus Miss Xus kleiner Abschweifung gelernt. Sogar Miss Xu selbst.» Dann sah er wieder zur Tafel. «Wenden wir uns nun wieder der Physik zu!»
Ein leises Stöhnen ging durchs Klassenzimmer, doch Laszlo witterte die Neugier. Viele seiner Schüler waren klüger, als gut für sie war, doch alle waren wissbegierig. Das vor allem war es, warum er diesen Job mochte.
«Beginnen wir mit einer kleinen Geschichte. Weiß irgendjemand, wer
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