Go West - Reise duch die USA
meiner Eltern war auf mich übergegangen und das Lachen zu Hause für viele Tage verschwunden. Liz war schon älter gewesen, ihr hatten sich die Ereignisse sicher stärker ins Gedächtnis eingeprägt.
»Wir konnten den Rauch von New Jersey aus sehen«, sagte sie leise. »Es war so … unrealistisch, das im Fernsehen zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass es doch die Wahrheit ist und uns ein Stück der Freiheit nimmt, die wir Amerikaner so sehr lieben.«
»Ich glaube«, sagte Gina behutsam, »dass die Terroristen euch nicht die Freiheit nehmen konnten. Aber vielleicht die Unbeschwertheit.«
Liz blickte Gina überrascht an. »Du hast recht. Und es wird lange dauern, bis wir sie wiederfinden. Vielleicht gelingt es uns mit dem neuen One World Trade Center .«
Langsam umrundeten wir die Aussichtsplattform. Wohin ich auch sah, Häuser, Häuser, Häuser. Hier und da ein grüner Klecks, ein Park oder besser, ein Pärkchen. Denn nur einen hat New York, der richtig groß ist.
»Ist das der Central Park ?«, fragte ich Liz, als wir Richtung Norden schauten und ein riesiges grünes Rechteck vor uns lag.
»Ja, das ist er. Im Central Park können die New Yorker aufatmen. Kein Krach, du kannst auf dem Rasen liegen oder Radfahren, Joggen, Baseball spielen, Faulenzen und Abhängen.«
»Cool«, sagte Gina sofort. »Da muss ich hin!«
»Machen wir morgen«, erwiderte Liz. »Alles an einem Tag ist unmöglich. Ich werde euch nachher noch Ground Zero zeigen, damit ihr einen Eindruck davon bekommt. Aber mehr schaffen wir nicht.«
»Das ist ja ein cooles Haus!«, rief Gina und zeigte schräg nach unten. »Sieht aus wie ein Stück Kuchen.«
»Wir nennen es das Flatiron Building , das Bügeleisengebäude.«
»Fehlt nur noch der Griff und das Kabel«, sagte ich lachend. Das Haus sieht tatsächlich so aus wie ein Stück Torte und läuft so spitz nach vorne aus, dass man unbedingt wissen möchte, wie es wohl von innen aussieht.
»Hier wird jeder Platz genutzt«, erklärte Liz. »Hast du nur ein spitzes Grundstück, baust du halt ein spitzes Haus. Die einzigen Stellen, die nicht mit Hochhäusern bebaut sind, gehören der Kirche. Seht mal, da oder dort drüben!«
Verblüfft bemerkte ich erst jetzt, dass inmitten des Häusermeeres winzig scheinende Lücken existierten, die Kirchen beherbergten. Durch die wuchtigen Häuserblocks schienen sie erdrückt zu werden. Hier ist es mal umgekehrt, fuhr es mir durch den Kopf, hier können die Kirchen den Menschen keine Ehrfurcht einflößen, sondern die Hochhäuser scheinen dies mit den Kirchen zu tun.
»Wir kommen nachher an einer vorbei«, fuhr Liz fort. »Ich bin kein frommer Mensch, aber diese Kirchen sind klasse.«
Als wir unsere Umrundung fortsetzten, entdeckte ich ein Schild, auf dem ein Spruch an die Besucher der Plattform eingelassen war: We welcome you, we welcome your visit, we do not welcome your graffiti!
Ich musste grinsen. Gut, dass wir Philipp nicht dabeihatten, der war ein unverbesserlicher Krickelkrakelsprüher. Ich weiß nicht, was die Jungs an so was finden. Jedenfalls schien man sich hier an den Hinweis zu halten, denn niemand hatte eine Probe seiner Sprühkunst hinterlassen.
Wir blieben fast eine Stunde oben, und wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir auch hier übernachtet. Es war für mich einer der schönsten Momente in meinem Leben, über den Dächern New Yorks zu stehen. Irgendwie fühlt man sich da oben stärker und freier. Wenn man nicht gerade Architekt ist, kann man es einfach nicht fassen, was Menschen bauen können. Doch der erste Tag in New York neigte sich langsam dem Ende zu, und Liz tippte ungeduldig mit dem Finger auf ihre Uhr.
»Ja, ja, ich komm schon«, seufzte ich. »Nächstes Jahr komme ich wieder und bringe ein Zelt mit.«
Lachend begaben wir uns wieder nach unten, und als ich am Fuß des noch für kurze Zeit höchsten Gebäudes Manhattans stand, bekam es von mir noch einen letzten liebevollen Klaps.
»Wenn King Kong wiederaufersteht«, sagte Gina lachend, »wird er wohl dich mit nach oben nehmen.«
»Mit Affen kenn ich mich aus«, erwiderte ich trocken. »Wir haben ja genug Jungs in der Klasse.«
Liz übernahm wieder die Führung. Als wir an die Stelle kamen, an der das World Trade Center gestanden hatte, war ich überrascht, wie groß das Areal ist.
»Das WTC bestand nicht nur aus den Zwillingstürmen«, erklärte Liz, die meinen Blick bemerkt hatte. »Insgesamt sieben Gebäude wurden zerstört oder so stark beschädigt, dass sie
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