Godspeed | Die Ankunft
weil sie so lange nicht gesprochen hat –, aber ihr Lachen umhüllt mich bereits, bevor ich in ihre Arme fallen kann. »Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht so schlimm wird«, wispert sie in mein Ohr.
Ich schluchze. Sie weiß es nicht. Sie glaubt, ich wäre ebenfalls gerade aufgewacht. Sie glaubt, ich hätte neben ihr geschlafen. Sie weiß nichts von den drei Monaten, die ich auf dem Schiff verbracht habe, den drei Monaten, in denen ich überzeugt war, sie niemals wiederzusehen.
Moms Hände umrahmen mein Gesicht, und mir fällt auf, dass sie immer noch eiskalt sind. Ich schaue über ihre Schulter hinweg in den Gang, der nach draußen führt. Ich wünschte, Junior wäre hier. Ich möchte ihn meinen Eltern vorstellen. Ich will, dass er versteht, wieso ich sie brauche, warum alles gut wird, jetzt, wo sie da sind. Aber Junior ist nicht da.
»Oh, Schatz«, sagt Mom voller Freude. »Wir haben es geschafft! Wir haben es wirklich geschafft!« Sie zieht mich wieder an sich und drückt mich ganz fest. »Da gibt es eine neue Welt, die wir zusammen entdecken können«, sagt sie.
»Ich habe dich so vermisst«, flüstere ich, doch meine Stimme bricht.
Mom weicht zurück und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Was meinst du damit?«
Ich bemerke, wie still es plötzlich ist. Die Leute vom Schiff betrachten die Neuankömmlinge misstrauisch, und die Aufgetauten sehen die Schiffsbewohner teils ängstlich, teils abwartend an.
Mein Vater kommt zu uns und lenkt damit alle Blicke auf uns. »Wieso trägst du diese Sachen?«, fragt er und zeigt auf meine Tunika und die Hose.
Ich sehe wieder meine Mutter an und vergesse alles außer uns dreien. Das ist meine Welt: meine Mutter, mein Vater und ich.
»Ich bin früher aufgewacht«, sage ich und starre in die grünen Augen meiner Mutter, von denen alle sagen, dass sie dieselbe Farbe haben wie meine.
Sie runzelt die Stirn.
»Wie viel früher?«, fragt mein Vater.
Die Antwort fällt mir schwer. Anfangs dachte ich, dass es fünfzig Jahre waren und dass mein Vater und ich diese Unterhaltung führen würden, wenn ich eine alte Frau wäre. Dann dachte ich, es wäre ein ganzes Leben zu früh und dass ich sterben würde, bevor ich diese Chance bekam.
»Drei Monate«, sage ich, denn bis zu diesem Augenblick ist mir nicht wirklich klar geworden, dass die Uhr tatsächlich stehengeblieben ist.
»Drei Monate?«, schnauft meine Mutter.
»Über hundert Tage«, bestätige ich. Am Ende hatte ich ein wenig den Überblick verloren, weil die Tage auf der
Godspeed
ohnehin keine Rolle mehr spielten.
»Was ist passiert?«, fragt meine Mom und greift nach meinem Handgelenk.
Ich öffne zwar den Mund, aber es kommen keine Worte heraus. Sie hält mein Handgelenk an genau derselben Stelle fest, an der auch Luthor mich gepackt hatte. Was passiert ist? Man hatte mir eine Welt versprochen, aber aufgewacht war ich in einem Käfig.
Es gibt so vieles, das ich ihr erzählen will. Erzählen muss.
Aber als ich in ihr Gesicht schaue, weiß ich, dass es keine Rolle spielt. Nicht in diesem Augenblick. Jetzt zählt nur eines: dass wir alle drei hier stehen, zusammen, am Leben,
vereint
.
Dad tritt dichter an uns heran und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Was ist hier los?«, will er wissen.
Und der innige Moment, den wir eben noch geteilt haben, schmilzt wie das Eis, das in den Bodenabfluss tropft.
Dad sieht hinüber zu der Menge stiller Zuschauer von der
Godspeed
– die Verwundeten, die Verängstigten. »Was ist hier los?«, wiederholt er mit seiner gewohnten Autorität. Er sucht nach einem Anführer und Junior ist nicht da.
Die Leute von der
Godspeed
wissen nicht, was sie tun sollen. Einen Augenblick lang sehe ich meine Familie, meine Leute so, wie sie es tun. Fremdartig. Anders. Sie sind gerade aus den Kryo-Kammern gekrochen – Kryo-Kammern, von deren Existenz sie bis vor Kurzem nichts wussten –, und jetzt steht da dieser Mann mit derselben blassen Haut wie ich und verlangt Auskunft von ihnen. Wenn sie vor
mir
schon Angst hatten, was halten sie dann von meinem Vater? Von den sechsundneunzig anderen Leuten von der Erde, die sich aus ihren eisigen Särgen erhoben haben, um alles an sich zu reißen?
Schließlich fasst sich Kit ein Herz und tritt aus der Menge vor. Sie sagt jedoch nichts, sondern sieht mich nur an.
Langsam dreht sich mein Vater um und sucht in meinen Augen nach einer Antwort.
Meine Mutter streicht mir noch einmal übers Haar, bis die greifbare Spannung im Raum sie
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