Goebel, Joey
Fehlgeburten. Noch glaubwürdiger wurde ihre Geschichte dadurch, dass man der zierlichen Elizabeth schon bei John ihre Schwangerschaft kaum angesehen hatte.
Wie Henrys heimliche Erkundigungen und Schmiergeldzahlungen ergaben, ließ sich der für die Adoption erforderliche Papierkram kaufen. In ihrem Anfall von Mitgefühl hatte Elizabeth Bernice erlaubt, den Namen des Kindes zu bestimmen. Bernice nannte den Kleinen nach ihrem Vater, einem vor langer Zeit verstorbenen Bergmann namens Eugene, ein Name, den die Mapothers schrecklich fanden, weil er damals überhaupt nicht en vogue war.
[414] Als der kleine Eugene nach Hause gebracht wurde, verliebte sich der dreizehnjährige John sofort in ihn, und obwohl er wusste, dass er nur den großen Bruder spielen sollte, gelobte er insgeheim, dem Jungen ein Vater zu sein. Innerhalb einer Woche wurde ihm klar, dass eine so große Verantwortung nicht von jemand so Unerfahrenem geschultert werden konnte. Aber wenigstens fiel ihm ein Spitzname ein, der Bestand haben sollte.
Als John Jahre später eine religiöse Wiedererweckung erlebte, trug er sich mit dem Gedanken, die Lügen zu beenden und der Welt zu beichten, dass Blue Gene sein Sohn war. Aber seine Eltern redeten es ihm aus. Sein Dad behauptete, Lügen seien keine sehr schwere Verfehlung. Lügen hätten sogar etwas Positives: Wenn man lüge, sei es egal, wenn einen der andere auch belüge, denn wie könne man ihm etwas Unrechtes antun, wenn man ihm mit der eigenen Lüge zuvorgekommen sei? Und es sei durchaus wahrscheinlich, dass der andere Beteiligte einem mit seiner Lüge zuvorgekommen war, was sei also schon dabei? So laufe es halt im Geschäftsleben, sagte Henry.
Elizabeth erklärte, diese spezielle Lüge sei eine lässliche Sünde, verglichen mit dem, was Blue Gene hätte zustoßen können. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn das Thema noch einmal zur Sprache kam, trichterte Elizabeth John jedes Mal ein, ja nicht zu glauben, diese Lüge aufrechtzuerhalten sei eine Sünde, denn nur dank ihr könne Blue Gene das gute, solide Leben führen, dessen er sich erfreue. Solange John das nicht vergesse, sei es keine Lüge, sondern moralisch einwandfreies Verhalten.
John bog auf den Highway ein, der laut Navigationsgerät [415] zu Bernice’ Haus führte. In der Dunkelheit tauchte ein Schild mit einem Tempolimit auf, obschon es ihm in dieser ungeheuerlichen, fast unwirklichen Nacht fast absurd vorkam. Dennoch hielt er sich daran, weil er jetzt unbedingt gut sein wollte. So viele Jahre lang war er schlecht gewesen, und um die Gründe zu erfahren, brauchte man keinen Therapeuten (obwohl er auf Betreiben seiner Mutter und zum Leidwesen seines Vaters etliche Therapeuten aufgesucht hatte). Als Zwölfjähriger hatte er ein Mädchen geschwängert, was zum Tod dieses Mädchens geführt hatte. Das war eine widernatürliche, ans Dämonische grenzende Sünde, die dazu führte, dass er seine Jugend und den größten Teil seines Erwachsenenlebens damit verbrachte, sich selbst zu zerstören – ganz zu schweigen davon, dass er auf Kissen, Sofapolster oder Telefone ejakulierte… nur nicht in einen richtigen Schoß. Dass Arthur überhaupt gezeugt wurde, war Millimeterarbeit und grenzte an ein Wunder.
Schließlich fand er die Adresse: 718 Highway 38 B. Es war eine erbärmliche weiße Bruchbude. Er bog in die mit Schotter bedeckte Auffahrt. Dass Blue Genes dreckiger, alter Pick-up mit dem 110 % IG-ECHT-SCHLIMMER-FINGER -Sticker auf der Windschutzscheibe in der Auffahrt stand, bedeutete mit ziemlicher Sicherheit, dass seine über ein Vierteljahrhundert dauernde Rolle als Bruder ausgespielt war. Johns Gesicht glühte. Er fühlte sich explosionsgefährdet, als wären seine Kopfbehaarung und seine Haut mit Sprengstoff durchsetzt. Während ein Teil von ihm »Mach keinen Rückzieher!« schrie, hatte der andere Teil Brustschmerzen, wie er es noch nie erlebt hatte. Er musste jetzt eine Entscheidung treffen: Entweder ging er ins Haus, stellte sich Blue Gene [416] und Bernice und schrieb den Scheck, der sie zum Schweigen verpflichtete, oder er brauste rückwärts aus der Ausfahrt und fuhr nach Hause, wo er fünf Tabletten Xanax nehmen und schlafen, schlafen, schlafen konnte.
Nachdem Blue Gene seinen eruptiven Magen geleert hatte, musterte er sich im Badezimmerspiegel, um sicherzugehen, dass er noch da war. Er kam sich vor wie ein Alien, der in eine neue Welt gefallen war und sich nun allmählich von seinem interplanetarischen Jetlag erholte. Er ging
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