Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
ich habe sie vom Tisch geschubst und jetzt rollt sie und -
(In diesem Augenblick erreicht sie die oberste Stufe der Treppe und fällt hinunter ...)
O nein! Was können wir tun? Herr Schildkröte — regt Sie denn das gar nicht auf? Wir verlieren unser Tonic! Es ist soeben die Treppe hinuntergefallen. Wir können bloß eins tun! Wir müssen ihm ins untere Stockwerk folgen!
Schildkröte: Dem Werk folgen? Mit Vergnügen. Wollen Sie nicht mitmachen? (Beginnt laut zu lesen, und Achilles, hin- und hergerissen, bleibt schließlich und übernimmt die Rolle von Herrn Schildkröte.)
Achilles: Es ist arg dunkel hier, Herr S. Ich kann nichts sehen. Autsch! — ich bin an eine Wand angestoßen. Vorsicht!
Schildkröte: Hier — ich habe zwei Spazierstöcke. Nehmen Sie doch einen. Sie können ihn vor sich hinhalten, so daß Sie nirgends anrempeln.
Achilles: Gute Idee. (Nimmt den Stock.) Merken Sie, daß unser Weg leicht nach links gebogen ist?
Schildkröte: Ganz leicht, ja.
Achilles: Wo wir wohl sein mögen? Und ob wir jemals wieder das Tageslicht erblicken? Hätte ich doch nie darauf gehört, als Sie vorschlugen, etwas von Ihrem „T RINKMICH "-Zeug zu schlucken.
Schildkröte: Ich versichere Ihnen, es ist ganz harmlos. Ich habe es noch und noch getan und habe es nie bereut. Entspannen Sie sich und genießen Sie es, klein zu sein.
Achilles: Klein sein? Was haben Sie mit mir gemacht, Herr S.?
Schildkröte: Machen Sie mir bloß keinen Vorwurf. Sie haben aus freien Stücken gehandelt.
Achilles: Haben Sie mich schrumpfen lassen? So daß das Labyrinth, in dem wir uns befinden, tatsächlich ein winziges Ding ist, auf das jemand TRETEN könnte.
Schildkröte: Labyrinth? Labyrinth? Ist es möglich? Befinden wir uns in dem berühmten Kleinen Harmonischen Labyrinth des gefürcheteten Majotaurus?
Achilles: Jesses! Was ist denn das?
Schildkröte: Man sagt — ich habe es allerdings nie geglaubt —, ein Böser Majotaurus habe ein winziges Labyrinth erbaut und sitze in einer Grube in dessen Mitte, wo er darauf warte, daß unschuldige Opfer sich in seiner furchterregenden Komplexität verirren. Und wenn sie dann verloren und halb betäubt in der Mitte ankommen, lacht er und lacht — so sehr, daß er sie zu Tode lacht!
Achilles: O nein!
Schildkröte: Aber er ist nur ein Mythos. Mut, Achilles!
(Und das tapfere Paar schleppt sich mühsam weiter.)
Achilles: Befühlen Sie diese Wände. Sie sind wie Wellblech oder so etwas ähnliches. Aber die einzelnen Wellen sind verschieden groß.
(Um das zu unterstreichen hält er im Gehen seinen Spazierstock gegen die Wand. Während der Stab gegen die einzelnen Wellen schlägt, hallen merkwürdige Klänge durch den langen gebogenen Korridor, in dem sie sich befinden.)
Abb. 25 . Kretisches Labyrinth (italienischer Stich; Schule von Finiguerra). [Aus: W 1-1. Matthews, Mazes and Labyrinths: Their History and Development, New York 1070.]
Schildkröte (erschrocken): Was war DAS ?
Achilles: Das war bloß ich. Ich streifte mit meinem Spazierstock die Wand entlang.
Schildkröte: Ich dachte einen Augenblick, es sei das Gebell des wilden Majotaurus.
Achilles: Haben Sie nicht gesagt, das alles sei nur ein Mythos?
Schildkröte: Natürlich ist es das. Nur keine Angst.
(Achilles hält seinen Spazierstock wieder gegen die Wand und geht weiter. Dabei erklingen musikalische Klänge. Sie kommen von dem Punkt, an dem der Stock die Wand berührt.)
Schildkröte: Puuh. Ich habe ein schlechtes Gefühl, Achilles. Vielleicht ist dieses Labyrinth eben doch kein Mythos.
Achilles: Augenblick. Warum besinnen Sie sich so plötzlich eines andern?
Schildkröte: Hören Sie die Musik?
(Um besser zu hören, senkt Achilles seinen Stock, und die melodischen Klänge verstummen.)
He! Tun Sie den Stock zurück! Ich will das Stück zu Ende hören.
(Achilles gehorcht verwirrt. Die Musik setzt wieder ein.)
Danke! Wie ich gerade bemerken wollte: Ich habe jetzt herausbekommen, wo wir uns befinden.
Achilles: Tatsächlich? Wo denn?
Schildkröte: Wir wandern in der spiralförmigen Rille einer Grammophonplatte in ihrer Hülle. Ihr Stock, mit dem Sie gegen das merkwürdige Gebilde an der Hauswand kratzen, ist wie eine Nadel, die in der Rille läuft, und produziert so Kunst für uns.
Achilles: O nein, o nein ...
Schildkröte: Was? Sind Sie nicht außer sich vor Glück? Haben Sie jemals eine Gelegenheit gehabt, in so enge Verbindung mit Musik zu treten?
Achilles: Wie kann ich jemals wieder Wettläufe gegen Menschen normaler
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