Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Größe gewinnen, wenn ich kleiner als ein Floh bin, Herr Schildkröte?
Schildkröte: Und sonst haben Sie keinen Kummer? Sie brauchen sich nicht aufzuregen, Achilles!
Achilles: Wenn man Ihnen zuhört, könnte man glauben, daß Sie sich überhaupt nie Sorgen machen.
Schildkröte: Ich weiß nicht. Ganz sicher ist aber, daß ich mir keine Gedanken über meine Größe mache. Besonders dann nicht, wenn ich mich der schrecklichen Gefahr des gefürchteten Majotaurus gegenübersehe.
Achilles: O Schreck! Wollen Sie mir sagen ...
Schildkröte: Ich fürchte ja, Achilles. Die Musik hat es verraten.
Achilles: Wie war das möglich?
Schildkröte: Sehr einfach. Als ich die Melodie B-A-C-H in der oberen Stimme hörte, erkannte ich sofort, daß die Rille, die wir durchwandern, nur das Kleine Harmonische Labyrinth, eines der weniger bekannten Orgelwerke Bachs, sein konnte. Es heißt so wegen seiner schwindelerregend häufigen Modulation.
Achilles: Was ist das?
Schildkröte: Nun, Sie wissen, daß die meisten Musikstücke in einer Tonart, wie z. B. C-Dur, geschrieben sind. So auch dieses.
Achilles: Ich habe den Ausdruck schon früher gehört. Heißt das nicht, daß C die Note ist, auf der man enden will?
Schildkröte: Ja. C ist sozusagen der Landepunkt. Der übliche Ausdruck ist „Tonika“.
Achilles: Entfernt man sich also von einer Tonika mit der Absicht, schließlich zu ihr zurückzukehren?
Schildkröte: Das ist richtig. Während das Stück sich entwickelt, werden mehrdeutige Akkorde und Melodien verwendet, die von der Tonika wegführen. Allmählich wird so eine Spannung geschaffen, man hat ein ständig wachsendes Verlangen, heimzukehren, die Tonika zu hören.
Achilles: Ist das der Grund, warum ich mich am Ende eines Stücks so befriedigt fühle, als hätte ich mein ganzes Leben darauf gewartet, die Tonika zu hören?
Schildkröte: Genau! Der Komponist hat seine Kenntnis der harmonischen Progression verwendet, um Ihr Gefühl zu manipulieren und in Ihnen die Hoffnung wachzurufen, die Tonika zu hören.
Achilles: Aber Sie wollten etwas über die Modulationen sagen.
Schildkröte: Ach ja. Etwas sehr Wichtiges, das der Komponist tun kann, ist im Verlauf des Stücks zu „modulieren“, d. h. er setzt sich vorübergehend ein anderes Ziel als die Auflösung in der Tonika.
Achilles: Ich verstehe, glaube ich wenigstens. Meinen Sie, daß eine Folge von Akkorden irgendwie die harmonische Spannung verschiebt, so daß ich tatsächlich eine Auflösung in einer anderen Tonart erhoffe?
Schildkröte: Richtig. Das macht die Situation komplexer, weil Sie zwar auf kurze Sicht die Auflösung in einer neuen Tonart wollen, während Sie die ganze Zeit irgendwo in Ihrem Kopf den Wunsch haben, das ursprüngliche Ziel zu erreichen — in diesem Fall C-Dur. Und wenn das untergeordnete Ziel erreicht ist, dann ...
Achilles (gestikuliert plötzlich begeistert): Hören Sie sich diese großartigen nach oben schweifenden Akkorde an, die das Ende des Kleinen Harmonischen Labyrinths bilden!
Schildkröte: Nein, Achilles, das ist nicht das Ende. Das ist lediglich ...
Achilles: Aber gewiß! Toll! Was für ein starkes, mächtiges Ende. Was für ein G-G-Gefühl der Erleichterung. Das ist mir aber wahrhaftig eine Auflösung! G-G-Gewaltige G-Gefühle dominieren!
(Und tatsächlich endet die Musik in dem Augenblick, in dem sie in das offene Gelände ohne Mauern gelangen.)
Sehen Sie, es IST zu Ende. Was habe ich Ihnen gesagt?
Schildkröte: Etwas ist aber ganz schief. Diese Platte ist ein Schandfleck in der Welt der Musik.
Achilles: Was meinen Sie damit?
Schildkröte: Genau das, wovon ich Ihnen gesprochen habe. Hier hat Bach von C-Dur nach G-Dur moduliert und als untergeordnetes Ziel die Note G erreicht. D. h., daß Sie zwei Spannungen zu gleicher Zeit erleben — Sie warten auf eine Auflösung nach G, behalten aber Ihren Wunsch, nämlich triumphierend mit C aufzuhören, bei.
Achilles: Warum muß man sich überhaupt an etwas erinnern, wenn man sich ein Musikstück anhört? Ist denn Musik lediglich eine intellektuelle Übung?
Schildkröte: Nein, natürlich nicht. Es gibt Musik, die in hohem Grade intellektuell ist, aber meistens ist sie es nicht. Und meistens führt Ihr Ohr oder Gehirn die „Berechnungen“ für Sie aus, und läßt Ihr Gefühl Sie wissen, was Sie hören wollen. Man braucht darüber nicht bewußt nachzudenken. In diesem Stück jedoch hat Bach Tricks verwendet in der Hoffnung, sie in die Irre zu führen. Und in Ihrem Fall, Achilles , war
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