Göring: Eine Karriere (German Edition)
entlassen, ohne Anzeichen von Geistesgestörtheit, wie Professor Olov Kinberg auf Verlangen Görings festhielt, der um seine Reputation in Deutschland fürchtete. Offiziell galt Göring als geheilt, tatsächlich aber war er krank – ein Süchtiger, der sich täglich weiterhin bis zu 50 Milligramm Morphium spritzte. Niemand außer Carin sollte von seinem Leben im Schatten der Droge wissen, aber je weiter er ins Rampenlicht der Öffentlichkeit rückte, desto zahlreichere Gerüchte wucherten über den Morphinisten an der Spitze des Staates. Görings Sucht bot eine gefährliche Angriffsfläche, denn Morphinismus galt unter Nationalsozialisten als »jüdisches« Laster. Es stigmatisierte Göring unter seinesgleichen, und doch kam er nicht von ihm los.
Er muss sich sehr große Mühe gegeben haben, normal zu erscheinen, wenn ich dort war, denn er machte auf mich noch immer den Eindruck eines freundlichen und lustigen Menschen; einen Eindruck, den ich schon als kleiner Junge von ihm gehabt habe.
Thomas von Kantzow über Görings Auftreten in Schweden
Veränderte das Morphium seinen Charakter? Waren seine extreme Fettleibigkeit, seine ungezügelte Sammelleidenschaft, seine Skrupellosigkeit, mit der später seine Ziele verfolgte, Folge seiner Sucht? Für Professor Springer vom Anton-Prosch-Institut in Wien greifen solche Deutungen eindeutig zu weit. Zum einen: »Eine auffettende Wirkung von Morphinen ist nicht bekannt. Im Allgemeinen sind Morphinisten eher appetitlos. Und letztlich kennen wir alle ja auch aus dem Stadtbild die eher mageren Süchtigen.« Zum anderen: »Wie weit die psychischen Folgeerscheinungen von der Droge abhängen und wie weit sie damit zusammenhängen, dass jemand, der als Morphinist bekannt ist, ja auch in einer sehr prekären sozialen und psychosozialen Situation lebt, das ist im Einzelfall recht mühsam zu entwirren. Chronischer Morphinismus führt meist dazu, dass die Menschen eher apathisch werden, sich um nichts mehr kümmern, alles geschehen lassen. Andererseits kennen wir auch Morphinisten, bei denen das ganz anders ist. Es scheinen also doch die Begleitumstände immer wieder eine sehr große Rolle zu spielen. Ich würde bei Göring wie auch bei anderen Menschen nie die Droge als das Zentrum ihres Erlebens und ihrer Reaktionen sehen.« Nicht die Sucht habe seinen Charakter maßlos werden lassen, sondern sein maßloser Charakter habe ihn anfällig für die Sucht gemacht. Wie nach allem, was ihm Glücksgefühle verschaffte, habe Göring auch nach Morphium gegriffen.
Obwohl er weiter an der Spritze hing, war der Klinikaufenthalt nicht vergeblich gewesen. Er half Göring, sein Leben neu zu ordnen – trotz der Droge als ständiger Begleiter. Äußere Umstände kamen ihm zu Hilfe. In Deutschland war in diesem Jahr der ehemals kaiserliche Generalfeldmarschall von Hindenburg als Nachfolger des Sozialdemokraten Ebert zum Reichspräsidenten gewählt worden. Dem politischen Wechsel folgte eine politische Amnestie, von der auch Göring profitierte. Am 12. November 1925 wurde der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben, im Mai 1926 das Verfahren wegen Hochverrats eingestellt. Seiner Rückkehr nach Deutschland stand nun nichts mehr im Wege. Doch dieser Weg war mühselig und dornenvoll. Als Vertreter der schwedischen Fallschirmfirma Thornblad ließ er sich 1927 in Berlin nieder – die kränkelnde Carin blieb zunächst in Schweden. Nach Jahren der Zurückhaltung suchte Göring auch wieder den Kontakt zu Hitler und der Partei, der nie ganz abgerissen war. Die Resonanz war ernüchternd. Man hatte den einstigen Kommandeur der SA zwar nicht vergessen, doch nirgendwo wurde er mit offenen Armen aufgenommen. Ein Antrittsbesuch bei Hitler in dessen Münchner Wohnung in der Thierschstraße verlief unbefriedigend. Der Parteiführer empfing den Heimgekehrten, doch eine Position in der NSDAP bot er ihm nicht an. Ausweichend empfahl er Göring, in Berlin zu bleiben und dort Kontakte zu knüpfen – das Weitere werde man sehen. Göring mietete sich darauf in einem Hotel am Kurfürstendamm ein und besuchte alte Fliegerkameraden wie Bruno Loerzer, der mittlerweile in die Berliner Geldaristokratie eingeheiratet hatte. Noch einmal warf ihn seine Drogenabhängigkeit zurück. Vom 7. bis zum 26. September 1927 war er wieder in Långbrö wegen »Abusus von Morphium, Dosis 40-50 cgm täglich«, wie die Krankenakte vermerkte. Ein Blick in seine Geschäftsbücher dürfte seine Stimmung nicht aufgehellt haben: »Er versetzte seine
Weitere Kostenlose Bücher