Göring: Eine Karriere (German Edition)
Nürnberg
Als Göring am Vormittag des 1. September 1939 zum Reichstag fuhr, um die Rede Hitlers zum Ausbruch des Krieges zu hören, war er tief deprimiert. Auch der »Führer« war keineswegs in Hochform. Sein Auftritt wirkte hölzern, angestrengt. Es gab weniger Beifall als üblich. Unverfroren behauptete Hitler, der Krieg sei nur ausgebrochen, weil Polen sich geweigert habe, mit Deutschland zu verhandeln. Schließlich verkündete er: »Sollte mir in diesem Kampf etwas zustoßen, so ist mein erster Nachfolger Parteigenosse Göring.« Zwar hatte Hitler dies bereits in einem Geheimerlass vom Dezember 1934 bestimmt, doch jetzt erteilte er Göring vor aller Welt den Ritterschlag zum zweiten Mann des Reiches. Mit dieser effekthascherischen Geste bestätigte der »Führer« die Sonderstellung seines Paladins, obwohl dieser den Zenit seiner Macht schon überschritten hatte. Hitlers öffentliche Erklärung war ein »Trostpflaster« für den gescheiterten Friedenspolitiker Göring. Sie besiegelte dessen Abhängigkeit und stürzte ihn in ein Dilemma. Auf der einen Seite erkannte Göring, dass die Politik des Diktators fatal war und Deutschland einen langen Krieg nicht gewinnen konnte. Auf der anderen Seite fühlte er sich zu absoluter Loyalität verpflichtet. Dieser Zwiespalt sollte sein Denken, Fühlen und Handeln während des ganzen Krieges prägen.
»Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen«: Hitlers Regierungserklärung im Reichstag, 1. September 1939
Nach letzten missglückten Verhandlungsversuchen richtete London am 3. September ein Ultimatum an Berlin: Die deutschen Truppen hätten sich aus Polen zurückzuziehen. Als Hitler nicht reagierte, erklärte Großbritannien um 11.45 Uhr Deutschland den Krieg. Die Kriegserklärung Frankreichs folgte am Spätnachmittag. Vor Wut knallrot im Gesicht schrie Göring Außenminister Ribbentrop am Telefon an: »Jetzt haben Sie Ihren Scheiß-Krieg! Sie sind der einzig Schuldige!«
Der Reichsmarschall
Im dreiwöchigen Krieg gegen Polen errang Görings Luftwaffe leichte Siege. Die Blitzkrieg-Taktik überraschte die schwache und veraltete polnische Luftwaffe, deren Flugzeuge in vielen Fällen schon am Boden zerstört wurden. Virtuos spielten Sturzkampfbomber und Panzerdivisionen in der vordersten Linie zusammen. Bereits am 8. September, nur eine Woche nach Beginn des Krieges, drangen deutsche Einheiten in die Außenbezirke von Warschau ein. Doch die polnische Regierung erklärte die Hauptstadt zur Festung und machte sie zum letzten Zentrum des Widerstands in dem zusammenbrechenden Nachbarland. Mit der Erstürmung Warschaus begann ein neues Kapitel der Luftkriegsgeschichte. Göring ließ seine Flugzeuge am 24. und 25. September in Wellen angreifen, um die Stadt kapitulationsreif zu bombardieren. 400 Maschinen warfen 486 Tonnen Sprengbomben, davon 72 Tonnen Brandbomben ab: der erste Großangriff dieser Dimension. Binnen weniger Stunden waren große Teile Warschaus zerstört. Später wurden Kamerateams nach Polen geschickt, die die ausgebrannten Ruinen aus der Luft filmten. Aus den Aufnahmen entstand der Propagandafilm »Feuertaufe«, ein Streifen, der die Erfolge der Luftwaffe feierte. Gegen Ende des Films erschien Göring persönlich auf der Kinoleinwand und behauptete, dieses Schicksal stehe auch England bevor.
Er war bemüht, mithilfe der Schwedenallianz den Ausbruch des Krieges zu verhindern. Für ihn war die Kriegserklärung der Engländer und der Franzosen ein Schock, wie für uns alle übrigens. Er hatte bis zum letzten Moment gehofft, dies verhindern zu können.
Heinz Cramer, 1937/38 Adjutant Görings
Die filmreife Drohung war vor allem taktisch motiviert. Göring war tief betroffen, als Hitler am 27. September, dem Tag der Kapitulation Warschaus, erstmals verkündete, er wolle bald im Westen angreifen. Selbst nach der Niederlage Polens hoffte Göring weiter auf einen Frieden mit Großbritannien und Frankreich. Im September und Oktober 1939 schickte er seinen schwedischen Kontaktmann Birger Dahlerus erneut zu Chamberlain. Hitler wusste davon und ließ seinen Paladin gewähren. Gleichzeitig verhandelte Göring hinter den Kulissen mit den Amerikanern. Auch mit dem Widerstand ging er vorsichtig auf Tuchfühlung. Beide Seiten spielten gedanklich die Möglichkeit einer Übergangsregierung durch. Doch konnte man Hitlers Stellvertreter wirklich vertrauen? Die Kontakte verliefen bald im Sande. Gleichwohl erkannte Hitler, dass Göring sich vertraglich mit den
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