Göring: Eine Karriere (German Edition)
Hilfe. Doch die Berufung auf höhere Mächte half ihm nicht, als Anfang Januar 1940 der Luftwaffe ein ungeheures Missgeschick passierte. Eine deutsche Kuriermaschine mit zwei Luftwaffenoffizieren an Bord verflog sich im dichten Nebel und musste im belgischen Mechelen notlanden. Entgegen allen Sicherheitsbestimmungen hatten die Offiziere geheime Aufmarschpläne im Gepäck, die jetzt in die Hände der Westmächte gelangten. Mehrere Tage, erinnerte sich Görings Schwester Olga, sei ihr Bruder »völlig auseinander« gewesen. Der Luftwaffenchef war in heller Angst vor Hitler. Jeden anderen Militär hätte die Schlappe vermutlich den Kopf gekostet. Seinen »treuesten Paladin«, den er vor nicht allzu langer Zeit zu seinem Nachfolger ernannt hatte, konnte Hitler nicht absetzen. Göring blieb im Amt, doch Hitler forderte ein Bauernopfer: Luftflottenchef Hellmuth Felmy, einer von Görings fähigsten Kommandeuren, musste gehen.
Am 10. Mai 1940 starteten rund 2500 deutsche Kampfflugzeuge in Richtung Westen. In rascher Folge legten Görings Geschwader die belgischen und niederländischen Luftstreitkräfte lahm und fügten der französischen und britischen Luftwaffe große Verluste zu. Wie schon in Polen errangen die Deutschen binnen kürzester Zeit die Luftüberlegenheit. Spektakuläre Einsätze von Fallschirmjägern und Luftlandetruppen entsprachen dem Bild einer schier unschlagbaren deutschen Luftmacht.
»Starker Widerstand«: Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe besichtigt das völlig zerstörte Rotterdam, 25. Mai 1940
Nach Warschau geriet am 14. Mai Rotterdam ins Visier der neuartigen Zerstörungskraft aus der Luft. Einige Tage zuvor waren deutsche Fallschirmjäger über der Hafenstadt abgesprungen mit dem Auftrag, die Maasbrücken zu erobern. Um den starken Widerstand der Festung zu brechen und die Fallschirmjäger aus ihrer schwierigen Lage zu befreien, wurden 100 Flugzeuge mit Sprengbomben beladen. Kurz nach deren Abflug kapitulierte der niederländische Festungskommandant. Der Befehlshaber der deutschen Truppen vor Ort, General Student, ließ rote Leuchtsignale abfeuern, um den Angriff in letzter Minute zu stoppen – zu spät. Die Hälfte der Angreifer übersah das Entwarnungssignal und klinkte die Bomben aus. Wie schon in Warschau gerieten die Brände schnell außer Kontrolle. Die Altstadt von Rotterdam ging in Flammen auf, 800 Menschen starben einen schrecklichen und sinnlosen Tod. Bereits zwei Stunden nach dem verheerenden Angriff erfolgte die totale Kapitulation Hollands.
Kurz darauf stand Hitler vor einem entscheidenden Sieg. Am 24. Mai hatten die Deutschen sich bei ihrem Vorstoß nach Westen bis auf 15 Kilometer der Stadt Dünkirchen angenähert, dem einzigen noch verbliebenen Kanalhafen der Alliierten. Nur noch wenige Stunden, dann wäre das letzte Schlupfloch verschlossen gewesen, und mehr als 300 000 britische, französische und belgische Soldaten hätten in der Falle gesessen. Doch Hitler ließ die Panzer auf Rat von General Rundstedt anhalten. Von seinem Befehlsstand in einem Sonderzug mit dem Decknamen »Asien« aus verfolgte Göring die dramatische Entwicklung. Auch im Krieg wollte er nicht auf den gewohnten Komfort verzichten. Seine Wohn- und Schlafräume im hinteren Teil des Zuges waren mit allen technischen Finessen ausgestattet. Ein Kammerdiener, sein Arzt und seine persönliche Krankenschwester sorgten für das leibliche Wohl des Feldmarschalls. Dieser witterte eine Gelegenheit, um sich und seine Luftwaffe erneut zu profilieren. Am Telefon prahlte er gegenüber dem »Führer«, seine »nationalsozialistische Luftwaffe« werde den Gegner »erledigen«, die Panzer brauche er dafür nicht.
»Die Luftwaffe vernichtet die Engländer am Strand«: In letzter Minute evakuierte britische Soldaten beobachten die brennende Küste bei Dünkirchen
Görings Entschluss war schnell gefallen. Auch Hitler zögerte nicht lange und verlängerte den umstrittenen Haltebefehl – eine katastrophale Fehlentscheidung. Die deutsche Luftwaffe, von ihrem Dauereinsatz seit Kriegsbeginn geschwächt, traf über Dünkirchen auf den starken Widerstand ausgeruhter britischer Jägerverbände. Görings Geschwader wurden durch schlechtes Wetter behindert und erlitten empfindliche Verluste. Mit ihren leistungsfähigen Spitfire-Maschinen erkämpften die Briten immer wieder die örtliche Luftüberlegenheit. Die deutsche Luftwaffe konnte die spektakuläre Selbstrettung der Alliierten über den Ärmelkanal zwar stören, aber
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