Göring: Eine Karriere (German Edition)
Nacht des 22. November telefonierte der Chef der Luftflotte 4, Generaloberst Wolfram von Richthofen, mit verschiedenen Leitungsstellen der 6. Armee und der Luftwaffe. Auch bei bestem Wetter, warnte er, sei mit starker russischer Gegenwehr zu rechnen, die Luftversorgung werde zusammenbrechen. Der Generalstabschef der Luftwaffe Jeschonnek, der sich seit dem 20. November bei Hitler auf dem Obersalzberg aufhielt, war unschlüssig. Mal war er für, dann wieder gegen die Luftbrücke. Schließlich griff Görings Adjutant Bodenschatz zum Telefon. Selbstverständlich, so der Reichsmarschall am anderen Ende, bleibe er bei seiner Zusage. Kurz darauf begab sich Göring persönlich auf den Obersalzberg. Wie Albert Speer in seinen Erinnerungen berichtet, erschien er »frisch und strahlend wie ein Operettentenor, der einen siegreichen Reichsmarschall zu spielen hat«. Hitlers Paladin nahm Haltung an und garantierte in feierlichem Ton persönlich für den Erfolg der Luftbrücke. Der »Führer«, zuvor deprimiert und niedergeschlagen, schien wie ausgewechselt: »Dann ist Stalingrad zu halten! Die 6. Armee bleibt in Stalingrad.« In diesem Augenblick wurde das Schicksal von fast einer Viertelmillion Soldaten besiegelt. Aber auch nachdem Hitler die Entscheidung am 24. November bekannt gegeben hatte, hörten die Warnungen nicht auf. Die Luftbrücke sei undurchführbar, erklärten die Generäle Manstein und Zeitzler. Doch weil Göring seine Zusage nun einmal gemacht hatte, war Hitler nicht mehr umzustimmen. Der Luftwaffenchef würde es schon richten. Ein Heeresadjutant notierte: »Führer begeistert von Reichsmarschall, der schaffe das wie in früheren Zeiten. Dort sei nicht der Kleinmut wie bei vielen Stellen des Heeres.«
Fieberhaft bereitete die Luftwaffe die beiden großen Flugplätze Tazinskaja und Morosowkaja-West, etwa 180 Kilometer westlich von Stalingrad, für die Luftversorgung des riesigen Kessels vor. Tausende Tonnen Verpflegung, Munition, Bekleidung und Sanitätsmaterial türmten sich in den Hangars. Am 25. November hoben die ersten Ju 52 in Richtung Stalingrad ab. Das bereits stark dezimierte »Jagdgeschwader Udet« war nur ein schwacher Schutz. Die sowjetische Abwehr schoss die schwerfälligen und nahezu wehrlosen Transportflugzeuge zu Hunderten vom Himmel. Unter Görings Oberbefehl begann das große Sterben der deutschen Transportverbände. Wegen des launenhaften, unbarmherzigen Winterwetters erreichten bald nur noch ganz wenige erfahrene Piloten im Blindflug den Kessel.
Oben: »Mein Führer, wir machen die Sache«: Ein Transportflugzeug nimmt an der Ostfront deutsche Soldaten an Bord, 1942
Unten: »Unmöglich, eine Armee dieser Größenordnung aus der Luft zu versorgen«: Ein deutsches Flugzeug auf dem Flugplatz Gumrak bei Stalingrad, Januar 1943
Hans Eckehard Bob, der als Luftwaffenpilot auch an der Ostfront Einsätze flog, glaubte von Beginn an nicht an einen Erfolg der Luftbrücke – und mit ihm vermutlich viele: »An sich hat jeder kleine Pilot gewusst, dass es unmöglich ist, eine Armee dieser Größenordnung aus der Luft zu versorgen. Dazu hatten wir ja gar nicht die Flugzeuge. Es war ja teilweise nicht einmal möglich, uns selbst auf unseren Flugplätzen zu versorgen, wie sollte es da mit einer ganzen Armee funktionieren? Aber in der höheren Führung hat man scheinbar geglaubt, dass es irgendwie mit Gewalt möglich sein muss. Bei Göring war der Wunsch der Vater des Gedankens. Er wollte Hitler anscheinend zeigen, was er mit seiner Luftwaffe alles schaffen kann. Dass dies nicht möglich war, muss er gewusst haben, aber er wollte es nicht wahrhaben.«
Schon nach wenigen Wochen musste sich auch Göring eingestehen, dass die Luftwaffe an Stalingrad scheitern würde. So vollmundig der Reichsmarschall die Luftbrücke zugesagt hatte, sosehr belastete ihn nun seine Fehlentscheidung. Als Luftwaffengeneral Paul Deichmann Ende Dezember zu einer Besprechung erschien, saß Göring hinter seinem Schreibtisch und wurde von einem »Weinkrampf« geschüttelt. Soeben waren »sehr schlechte Nachrichten« aus Stalingrad eingetroffen. Seit Ende 1942 ging Göring der ohnehin nicht allzu fest verwurzelte Glaube an den »Endsieg« verloren. Doch nach außen tat er alles, um seine geheimen Zweifel zu verbergen. Gerade er, der treue Paladin Hitlers, fühlte sich verpflichtet, weiterhin Zuversicht auszustrahlen. Der Reichsmarschall achtete streng darauf, dass im Kreis seiner Untergebenen keine defätistischen Bemerkungen fielen.
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