Göring: Eine Karriere (German Edition)
keinen anderen Bescheid vom Führer direkt oder von mir erhalten, bitte ich Sie, unverzüglich auf dem Luftwege zu mir zu kommen.« Per Funkspruch informierte Göring auch Bormann darüber, dass er Hitler ein Telegramm geschickt habe, und bat ihn, den »Führer« dazu zu bewegen, Berlin zu verlassen. Nachdem alle Botschaften abgesetzt waren, nahm Göring gemeinsam mit Koller und Bouhler ein spätes und hastiges Mittagessen ein. Die Dinge waren nun in Bewegung, jetzt hieß es abwarten. Wenn alles glatt lief, würde er schon in wenigen Stunden der erste Mann des »Dritten Reichs« sein.
Görings Telegramm wurde anscheinend wohl nicht ganz richtig von Bormann interpretiert. … Jedenfalls gab es dann eine Explosion. Hitler bekam einen Wutausbruch und hat das als Verrat empfunden. Göring war für ihn fortan ein Verräter.
Traudl Junge, Sekretärin Hitlers
Während des Essens gab Göring seine weiteren Absichten bekannt. In völliger Verkennung der tatsächlichen Lage und seiner eigenen Bedeutung wollte er am nächsten Tag zu General Eisenhower fliegen – überzeugt davon, es stehe in seiner Macht, in einem schicksalhaften Gespräch »von Mann zu Mann« ein rasches Einvernehmen über das weitere Schicksal Deutschlands zu erzielen. Außerdem beauftragte er Koller damit, einen Appell an die Wehrmacht und das deutsche Volk zu verfassen, der Utopisches enthielt: »Die Russen müssen nach diesem Aufruf glauben, dass wir den Kampf gegen Ost und West unverändert fortsetzen, die Amerikaner und Engländer aber müssen daraus lesen können, dass wir nicht mehr daran denken, den Kampf im Westen weiterzuführen, sondern nur gegen die Sowjets. Und unsere Soldaten müssen entnehmen, dass der Krieg weitergeht, aber gleichzeitig das Gefühl bekommen, es geht doch irgendwie zu Ende und mit für uns günstigeren Aussichten als bisher.« Die Quadratur des Kreises wäre eine leichtere Aufgabe gewesen.
In diesen Stunden zwischen Mittag und Abend des 23. April glaubte Göring an seine Chance, noch einmal groß rauszukommen. Das Reichskabinett wollte er sofort umbilden, Ribbentrop ersetzen und das Außenministerium am liebsten selbst übernehmen, was wegen der »großen, ihm zufallenden Aufgaben« aber unmöglich sei. »Jetzt, nachdem die Würfel mehr oder weniger gefallen sind, ist Göring sehr frisch und tatendurstig. Geradezu, als ob ein schwerer Druck von ihm gewichen wäre. Er freut sich richtig darauf, mit den Amerikanern in Verbindung zu treten, und betont immer wieder, dass er mit den Amerikanern und Engländern bestimmt gut zusammenarbeiten könnte«, hielt General Koller in seinen Tagebuchaufzeichnungen fest. »Früher habe ich ihn, wenn er in einer Sache Hitler vergeblich opponiert hatte und dann in seiner Scheu vor ihm dessen Worte und Ausführungen hernach im Brustton der Überzeugung als seine eigene Auffassung vertrat, oft die ›Stimme seines Herrn‹ … genannt. Nun ist er irgendwie anders geworden. Beim Essen strahlt er und freut sich auf neue Aufgaben. Wir sprechen noch davon, dass er sich isoliert auf dem Berg befinde, inmitten von SS, und keinen Schutz habe. Es gerät uns gar nicht in den Sinn, dass besondere Maßnahmen in dieser Hinsicht nötig sein könnten.«
Ich habe niemals, selbst nicht während der einflussreichsten Jahre meines Lebens, einen solchen Einfluss auf Hitler gehabt wie Bormann in den letzten Jahren. Wir nannten Bormann den »kleinen Sekretär, den großen Intriganten und das dreckige Schwein«.
Göring, 1945
Während Göring sich auf dem Obersalzberg wolkigen Wunschträumen über die Zukunft hingab, wetzte Martin Bormann im Bunker unter der Reichskanzlei den Dolch für die finale Intrige gegen den verhassten Reichsmarschall. Nach der Lagebesprechung am 23. April war Albert Speer im Bunker umhergeschlendert, als er auf einmal im Flur aufgeregte Stimmen hörte. Görings Telegramm war eingetroffen. Eilig brachte Bormann es zum »Führer« und interpretierte den Text nach seinem eigenen Gutdünken: Das sei ein Staatsstreich. Der Reichsmarschall erdreiste sich, Hitler ein Ultimatum zu stellen, indem er bis 22 Uhr eine Antwort fordere. Angesichts der Nachrichten, die Göring aus Berlin erhalten hatte, und seiner offensichtlichen Loyalitätsbekundung im Telegramm war dies eine böswillige Unterstellung. In der Tat scheint Hitler Görings Telegramm trotz Bormanns Hetztiraden auch ruhig, fast apathisch zur Kenntnis genommen zu haben. Dies änderte sich erst, als kurz vor 18 Uhr auch Görings
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